„Erinnern ist ein kreativer Prozess“

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"Erinnern ist ein kreativer Prozess"

Wenn Menschen zu Unrecht verurteilt werden, dann liegt das oft an der Fehlbarkeit des menschlichen Gedächtnisses. Die Psychologin Elizabeth Loftus erklärt im Interview, warum wir unserem Gedächtnis weniger vertrauen sollten.

Veröffentlicht: 22.07.2011

Niveau: mittel

Kurzbiografie Elizabeth Loftus

Elizabeth Loftus, geboren 1944, arbeitet als Psychologin an der Universität von Kalifornien in Irvine. Sie gehört dort den Fakultäten für Psychologie, Recht und Neurowissenschaften an. Loftus untersucht die Formbarkeit menschlicher Erinnerungen. In zahlreichen Gerichtsprozessen hat sie als Expertin für die Verteidigung ausgesagt, unter anderem in den Fällen um Ted Bundy und O.J. Simpson.

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Frau Loftus, wenn ich mich in ein paar Wochen an dieses Interview zurückerinnere, kann ich mich dann auf mein Gedächtnis verlassen?
Elizabeth Loftus: Was die grundsätzliche Richtung angeht, wahrscheinlich schon. Aber mit den Details wäre ich vorsichtig. Unser Gedächtnis funktioniert nicht wie ein Kassettenrecorder, der etwas aufnimmt und dann kann man es einfach abspielen. Erinnern ist ein kreativer Prozess: Wenn wir uns erinnern, dann formen wir Fragmente, die wir zu unterschiedlichen Zeitpunkten und an unterschiedlichen Orten erlebt haben, zu einer Erinnerung oder zu etwas, das sich wie eine Erinnerung anfühlt.

Es muss also nicht der Wahrheit entsprechen?
Genau. Und jedes Mal, wenn wir uns an etwas erinnern, wenn wir einen Gedächtnisinhalt hervorholen, verändern wir ihn wieder. Durch die Stimmung, in der wir uns gerade befinden, durch neue Informationen, die wir damals noch nicht hatten. Das ist wie eine Datei, die immer wieder verändert wird, und nur die neueste Fassung ist zugänglich. Deshalb können wir auch falsche Erinnerungen haben, oder es können sich Details darin befinden, die nicht richtig sind.

Zum Beispiel?
Wir fügen in Erinnerungen auch Schlussfolgerungen ein, die wir gezogen haben. Nehmen wir an, ich sage Ihnen: „John hat den Nagel in die Wand geschlagen.“ Später komme ich dann wieder und frage Sie: „Habe ich gesagt, er hat den Nagel in die Wand gehämmert?“ Die meisten Leute sagen, ja. John hätte zwar einen Schuh oder irgendetwas nutzen können, aber wir gehen davon aus, dass er einen Hammer benutzt hat – und daran erinnern wir uns dann auch.

Vor Gericht können solche falschen Erinnerungen über Schuld oder Unschuld eines Angeklagten entscheiden.
Wir wissen seit langem, dass es Fälle gibt, in denen Opfer oder Zeugen eine Person fälschlicherweise als Täter identifizieren und dieser Mensch dann zu Unrecht verurteilt wird. Aber erst seit einigen Jahren haben wir wirklich gute Daten darüber, wie häufig das passiert. Das Innocence-​Projekt hat sich darauf spezialisiert, alte Fälle wieder aufzurollen, bei denen es DNA-​Spuren gibt, die damals noch nicht untersucht werden konnten. Brandon Garrett vom Innocence-​Projekt hat die ersten 250 Fälle von Menschen analysiert, die so ihre Unschuld beweisen konnten. 76 Prozent dieser Verurteilungen sind auf falsche Zeugenaussagen zurückzuführen.

Es gibt auch Fälle, in denen es nicht um Details geht, sondern um ganze Episoden, an die Menschen sich erinnern konnten, die aber nie passiert sind.
Ja, zu glauben, man sei von einem satanischen Kult vergewaltigt worden, ist etwas anderes, als zu glauben, jemand habe glattes Haar, obwohl er Locken hat. Es gab tausende solcher Fälle: Menschen gingen zu einer Therapie und kamen heraus und glaubten, das Opfer von Missbrauch zu sein. Sie gingen zur Polizei und klagten Nachbarn oder Familienmitglieder an, die dann häufig verurteilt wurden. Das waren tragische Fälle.

Dieses „False-​Memory-​Syndrom“ ist immer noch umstritten. Woher soll die Erinnerung an so ein großes, schreckliches Ereignis herkommen, das nie stattgefunden hat?
Meistens läuft das so ab: Eine Frau hat ein Problem, zum Beispiel eine Essstörung oder Depressionen. Sie geht zum Therapeuten und der sagt: „Wissen Sie, jeder der mit diesen Symptomen zu mir gekommen ist, ist als Kind missbraucht worden. Ist so etwas Ihnen auch passiert?“ Die Frau verneint und der Therapeut bohrt weiter: „Aber könnte es nicht sein, dass das passiert ist und Sie es verdrängt haben? Versuchen Sie, sich zu erinnern! Was könnte passiert sein?“ Und langsam entsteht ein Bild, eine Möglichkeit, die irgendwann zur Gewissheit wird.

Aber ist es nicht möglich, dass diese Menschen traumatische Erlebnisse tatsächlich verdrängt hatten?
Ich glaube, dass man an etwas eine lange Zeit nicht denken kann, auch sehr unangenehme Dinge, und dann durch etwas daran erinnert werden kann. Sie müssen nur zu einem Klassentreffen gehen, um das selbst zu erleben. Aber dass jemand die Erinnerung an elf Jahre der Vergewaltigung oder an einen furchtbaren Mord unterdrücken kann, für solche Behauptungen gibt es keine glaubhafte wissenschaftliche Basis.

Sie selbst haben eine sehr traurige Kindheitserinnerung.
Als ich 14 Jahre alt war, ertrank meine Mutter im Swimming-​Pool ihres Bruders. Das war auf seinem Grundstück in Pennsylvania. Ich war damals auch dort und besuchte meinen Onkel. Ich erinnere mich an den Tag. Ich erinnere mich an die Feuerwehrleute, die kamen. Das war eine furchtbare Tragödie.

Jahre später, beim 90. Geburtstag meines Onkels, erinnerte mich ein Verwandter an den Tag und sagte mir, ich hätte meine Mutter damals gefunden. Ich widersprach, sagte: „Nein, das war nicht ich. Ihre Schwester hat sie gefunden.“ Aber er war sich sicher. Und ich begann zu überlegen, ob er Recht haben könnte. Die Feuerwehr hatte mir Sauerstoff gegeben, das wusste ich noch. Möglicherweise war ich ja so aufgewühlt gewesen, weil ich meine Mutter gefunden hatte. Ein paar Tage lang wuchs diese Erinnerung in meinem Kopf und ich glaubte sie schon fast, als der Verwandte mich anrief und sagte: „Entschuldige, ich habe mich letztens vertan, es war tatsächlich deine Tante, die deine Mutter fand.“

Warum sollte uns die Evolution mit einem so unzuverlässigen Gedächtnis ausstatten?
Eine Antwort ist sicher, dass es uns erlaubt, Fehler zu korrigieren. Außerdem scheinen viele der Fehler, die unser Gedächtnis macht, unser Selbstbild zu verbessern: Wir glauben, dass wir in der Schule bessere Noten hatten, als wir tatsächlich hatten, dass unsere Kinder früher laufen und sprechen konnten, als sie das tatsächlich konnten, dass wir unsere Stimme abgegeben haben in Wahlen, an denen wir gar nicht teilgenommen haben. Das alles steigert unser Selbstwertgefühl.

Aber warum sollte sich jemand einbilden wollen, er sei zum Beispiel sexuell missbraucht worden?
Weil er so eine Erklärung hat für seine Probleme, für sein Verhalten. Der Mensch muss keine Schuldgefühle haben, nicht denken: Irgendetwas stimmt mit mir nicht. Ich bin wohl eine schlechte Person oder ein bisschen verrückt.

Gibt es denn eine Möglichkeit, falsche und echte Erinnerungen zu unterschieden?
Das ist sehr schwer. Nur weil jemand etwas sehr detailliert und plastisch, sehr selbstsicher, sehr emotional erzählt, heißt das nicht, dass es auch so passiert ist. Falsche Erinnerungen können genau diese Eigenschaften haben.

Und im Hirnscanner, wenn man dem Gehirn gewissermaßen beim Erinnern zuschaut?
Dabei einen Unterschied zwischen echten und falschen Erinnerungen zu erkennen, das versuchen Forscher seit mehr als zehn Jahren. Bisher haben wir dabei aber wenig Erfolg. Typischerweise sehen die Testpersonen im Experiment einen Unfall oder eine Straftat. Hinterher erhalten sie dann falsche Informationen darüber, die sie in ihre Erinnerung einbauen, so wie das in Wirklichkeit passiert, wenn sie mit anderen Zeugen sprechen. Die richtigen Informationen wurden also visuell aufgenommen, die falschen über den Hörsinn.

Man könnte bei den richtigen Erinnerungen also eine etwas stärkere Aktivierung des Gehirnareals erwarten, das visuelle Informationen verarbeitet. Kleine Unterschiede sehen wir auch tatsächlich, aber wir sind sehr, sehr weit davon entfernt, eine einzelne Erinnerung einer Person zu testen und zu sagen, ob sie wahr ist oder nicht.

Gedächtnis

Gedächtnis/-/memory

Gedächtnis ist ein Oberbegriff für alle Arten von Informationsspeicherung im Organismus. Dazu gehören neben dem reinen Behalten auch die Aufnahme der Information, deren Ordnung und der Abruf.

Hammer

Hammer/Maleus/hammer

Der erste der kleinen Gehörknöchelchen im Innenohr. Er ist mit dem Trommelfell verbunden und überträgt die durch die Schallwellen ausgelöste Vibration über die beiden anderen Gehörknöchelchen (Amboss, Steigbügel) zur Gehörschnecke, wo der Reiz in ein neuronales Signal umgewandelt wird.

Depression

Depression/-/depression

Phasenhaft auftretende psychische Erkrankung, deren Hauptsymptome die traurige Verstimmung sowie der Verlust von Freude, Antrieb und Interesse sind.

Emotionen

Emotionen/-/emotions

Unter „Emotionen“ verstehen Neurowissenschaftler psychische Prozesse, die durch äußere Reize ausgelöst werden und eine Handlungsbereitschaft zur Folge haben. Emotionen entstehen im limbischen System, einem stammesgeschichtlich alten Teil des Gehirns. Der Psychologe Paul Ekman hat sechs kulturübergreifende Basisemotionen definiert, die sich in charakteristischen Gesichtsausdrücken widerspiegeln: Freude, Ärger, Angst, Überraschung, Trauer und Ekel.

zum Weiterlesen:

  • Elizabeth Loftus, University of California in Irvine; URL: http://​sociale​col​ogy​.uci​.edu/​f​a​c​u​l​t​y​/​e​l​o​ftus/ [Stand: 01.2013]; zur Webseite.

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