Erkenne dich selbst – im Spiegel
Hält man einem Säugling einen Spiegel vor, dann erkennt er nicht, dass das Gesicht dort sein eigenes ist. Erst ein paar Monate später gelingt es dem Kind, sich selbst zu erkennen. Fünf Hirn-Areale helfen dabei.
Wissenschaftliche Betreuung: Dr. Susanne Leiberg
Veröffentlicht: 08.03.2013
Niveau: mittel
- Die Fähigkeit, sich selbst im Spiegel zu erkennen ist, gilt als ein Indikator für ein Selbstbewusstsein.
- Kinder entwickeln im Alter zwischen sechs und 18 Monaten die Fähigkeit zum Selbst-Erkennen; diese Entwicklungsphase wird Spiegel-Stadium genannt.
- Das eigene Spiegelbild ist zwar prägend für unser Selbstbild, für das Verständnis vom eigenen Ich aber braucht es noch viel mehr.
Den Spiegel-Test gibt es in verschiedenen Varianten. Die bekannteste standardisierte Methode ist der Rouge-Test. Dabei wird dem Kleinkind unbemerkt ein roter Fleck auf die Stirn gemalt und ihm dann ein Spiegel vorgehalten. Wenn das Kind daraufhin in den Spiegel schaut und versucht, den Fleck an der eigenen Stirn wegzuwischen, gilt der Test als bestanden. Aus dieser Reaktion schließen die Wissenschaftler, dass sich das Kind im Spiegel selbst erkannt hat.
- Der amerikanische Psychologe Gordon Gallup Jr. gilt als Pionier des Spiegel-Tests mit Tieren. 1970 publizierte er in der Zeitschrift "Science" einen wegweisenden Aufsatz über Schimpansen. In dem Experiment wurden die Affen betäubt, um ihnen unbemerkt zwei rote Flecken ins Gesicht zu malen: den einen auf eine Augenbraue, den anderen auf das entgegengesetzte Ohr. Als die Tiere erwachten und keinen Spiegel hatten, berührten sie die Markierungen nur sehr selten. Als dann ein Spiegel zu den Tieren gestellt wurde, betrachteten sich die Tiere darin und berührten nun ständig ihre Markierungen.
- Auch Elstern, Delfine, Orang-Utans und Rhesusaffen bestehen den Spiegel-Test. Bei Elefanten gab es weniger eindeutige Ergebnisse: Nur einzelne Tiere schaffen den Test.
- Fische reagieren in einem Spiegel-Test ganz anders: Sie bekämpfen ihr Spiegelbild genauso wie einen echten Artgenossen. Allerdings hat sich in einem Experiment gezeigt: Bestimmte Hirnregionen, die für Angst zuständig sind, waren beim Kampf mit dem Spiegelbild aktiver als beim realen Gefecht. Die Fische hatten also bemerkt, dass mit dem Spiegel etwas anders war als sonst, aber sie konnten nicht reflektieren, was es war.
Ohr
Ohr/Auris/ear
Das Ohr ist nicht nur das Organ des Hörens, sondern auch des Gleichgewichts. Unterschieden werden das äußere Ohr mit Ohrmuschel und äußerem Gehörgang, das Mittelohr mit Trommelfell und den Gehörknöchelchen sowie das eigentliche Hör– und Gleichgewichtsorgan, das Innenohr mit der Gehörschnecke (Cochlea) und den Bogengängen.
Ein Kleinkind mit roten Haaren steht vor einem Spiegel: Mit einer Hand klatscht es dagegen. Dann läuft der Junge einmal von rechts nach links – und wundert sich, als er die Gestalt im Spiegel auf einmal nicht mehr sieht. Ein paar Sekunden später bückt er sich und versucht, unter den Spiegel zu kriechen, so als ob er sein Gegenüber hinter dem Spiegel besuchen möchte. Doch da ist die Wand. Offensichtlich erkennt sich das Kind im Spiegel noch nicht selbst.
Videos mit solchen Szenen stellen Eltern häufig ins Internet. In diesem Fall ist der Junge laut Beschreibung 14 Monate alt. Für Kinder in dem Alter sei es ganz normal, dass sie ihr Spiegelbild noch nicht erkennen können, sagt Norbert Zmyj, Entwicklungspsychologe an der Ruhr-Universität Bochum. Dennoch reagieren sie anders als gegenüber tatsächlichen Personen. „Von sechs oder sieben Monate alten Kindern wissen wir, dass sie vor einem Spiegel weniger soziale Verhaltensweisen zeigen als wenn ihnen ein gleichaltriges Kind gegenübersitzt“, sagt Norbert Zmyj. „Beispielsweise lächelt das Kind weniger und schaut das Gegenüber, sein Spiegelbild, seltener an.“ Man sehe den Kindern auch an, wie sie sich wundern, denn das Spiegelbild reagiere anders als tatsächliche Personen. Norbert Zmyj gibt dafür ein Beispiel: Wenn die Mama eine Grimasse zieht, dann lacht das Kind, und daraufhin grinst auch die Mutter. Mutter und Kind wechseln sich also normalerweise mit ihrer Mimik ab. Das Gegenüber im Spiegel hingegen reagiert nicht, sondern macht alles zeitgleich mit – komisch. „Das Kind merkt also, dass im Spiegel etwas anders ist. Es versteht aber noch nicht, was: nämlich dass es das selbst ist.“
Mimik
Mimik/-/facial expression
Fünf Muskelgruppen kontrollieren die sichtbaren Bewegungen an unserer Gesichtsoberfläche – und das gilt für alle Menschen auf der Welt. Aus diesem Grund hinterlassen die Basisemotionen Angst, Wut, Ekel, Trauer, Überraschung und Freude überall ähnliche Spuren im Gesicht, die wir in der Regel auch bei Fremden zuverlässig identifizieren können. Neurowissenschaftler vermuten, dass diese Fähigkeit dadurch zustande kommt, dass wir unbewusst den Gesichtsausdruck unseres Gegenübers nachahmen.
Sich selbst beim Grimassen-Schneiden beobachten
Später – mit 15 Monaten oder auch erst mit 24 Monaten – wird das Kind erkennen: Das da im Spiegel, das bin ich. „Viele Kinder schneiden dann Grimassen, denn es ist das erste Mal, dass sie ihre Mimik beobachten können. Ihre Gestik konnten sie ja immer schon sehen, also wie sich etwa ihre Hände bewegen“, sagt Norbert Zmyj. Andere Kinder meiden ihr Spiegelbild allerdings: fast so, als sei es ihnen unheimlich, dass da nicht wer anderes ihnen gegenüber ist, sondern sie selbst.Der 14 Monate alte Junge aus dem Video kommt also gerade in eine spannende Entwicklungsphase: das Spiegel-Stadium. Während dieser Zeit entwickelt sich das Ich, vermutete bereits in den 1930er Jahren der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan.
Was sich in dieser Phase im Gehirn ändert, ganz physisch, das wissen die Forscher nicht. „Das große methodische Problem ist ja: Wir können diese kleinen Kinder nicht einfach in einen Scanner legen“, sagt Norbert Zmyj. Vor allem ethische Bedenken gebe es. „In Deutschland dürfen Kinder nicht ohne medizinischen Grund in einen Magnetresonanztomografen gelegt werden.“ Eine solche Untersuchung wäre eine nicht zu rechtfertigende Belastung für sie. Hinzu komme ein ganz praktischer Grund: „Die kleinen Kinder können gar nicht so still halten, wie das für solche Aufnahmen nötig wäre.“
Mimik
Mimik/-/facial expression
Fünf Muskelgruppen kontrollieren die sichtbaren Bewegungen an unserer Gesichtsoberfläche – und das gilt für alle Menschen auf der Welt. Aus diesem Grund hinterlassen die Basisemotionen Angst, Wut, Ekel, Trauer, Überraschung und Freude überall ähnliche Spuren im Gesicht, die wir in der Regel auch bei Fremden zuverlässig identifizieren können. Neurowissenschaftler vermuten, dass diese Fähigkeit dadurch zustande kommt, dass wir unbewusst den Gesichtsausdruck unseres Gegenübers nachahmen.
Gestik
Gestik/-/body language
Eine nonverbale Form der Kommunikation, bei der bestimmte Bewegungen Inhalte transportieren – ein Zucken der Schultern, eine abwinkende Armbewegung.
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Fünf Hirnregionen helfen beim Selbst-Erkennen
Die Wissenschaftler müssen sich also darauf beschränken, Erwachsene zu untersuchen. Sie sind schon lange aus dem Spiegel-Stadium heraus. Doch immerhin lässt sich mit bei ihnen untersuchen, was sich genau im Hirn tut, wenn sie sich im Spiegel oder auf einem Foto erkennen. Auch hier haben die Hirnforscher aber noch keine vollständigen Antworten. In einem Übersichtsartikel von 2011, der 18 Studien zusammenfasst, kommen Neuroforscher von der Universität Lüttich und der Universität Amsterdam zu dem Schluss: „Leider bleibt es eine sehr schwere und gewagte Aufgabe, spezifische kognitive Vorgänge beim Selbst-Erkennen mit gewissen Hirnregionen in Verbindung zu bringen.“
Immerhin zeigen die Studien: Wenn wir uns im Spiegel oder auf einem Foto erkennen, sind hauptsächlich fünf Hirnregionen aktiv: Ist das Gesicht, das ich sehe, mein eigenes? Oder das meiner Schwester? Um solche Fragen zu beantworten, sucht das Gehirn nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Das passiert in separaten Bereichen: Teile des präfrontalen Cortex reagieren auf Unterschiede – und für die Wahrnehmung der Vertrautheit sind Teile des Schläfenlappens vor allem der fusiforme Gyrus zuständig.
Unabhängig davon, ob man nun ein Bild von sich selbst oder von einem anderen anschaut, ist das Hirn aufmerksam. Dafür sorgt der cinguläre Cortex des limbischen Systems. In der Regel mögen wir uns selbst. Das sieht man auch in den Hirnaktivitäten: Wenn ein Mensch ein Bild von sich sieht, dann arbeitet eine Region sehr stark, die für Emotionen wichtig ist: die Inselrinde. Außerdem nimmt man das Gesicht als einen Teil des eigenen Körpers wahr. Dafür sorgt der Parietalcortex, vor allem der untere Parietallappen.
Präfrontaler Cortex
Präfrontaler Cortex/-/prefrontal cortex
Der vordere Teil des Frontallappens, kurz PFC ist ein wichtiges Integrationszentrum des Cortex (Großhirnrinde): Hier laufen sensorische Informationen zusammen, werden entsprechende Reaktionen entworfen und Emotionen reguliert. Der PFC gilt als Sitz der exekutiven Funktionen (die das eigene Verhalten unter Berücksichtigung der Bedingungen der Umwelt steuern) und des Arbeitsgedächtnisses. Auch spielt er bei der Bewertung des Schmerzreizes eine entscheidende Rolle.
Wahrnehmung
Wahrnehmung/Perceptio/perception
Der Begriff beschreibt den komplexen Prozess der Informationsgewinnung und –verarbeitung von Reizen aus der Umwelt sowie von inneren Zuständen eines Lebewesens. Das Gehirn kombiniert die Informationen, die teils bewusst und teils unbewusst wahrgenommen werden, zu einem subjektiv sinnvollen Gesamteindruck. Wenn die Daten, die es von den Sinnesorganen erhält, hierfür nicht ausreichen, ergänzt es diese mit Erfahrungswerten. Dies kann zu Fehlinterpretationen führen und erklärt, warum wir optischen Täuschungen erliegen oder auf Zaubertricks hereinfallen.
Temporallappen
Temporallappen/Lobus temporalis/temporal lobe
Der Temporallappen ist einer der vier großen Lappen des Großhirns. Auf Höhe der Ohren gelegen erfüllt er zahlreiche Aufgaben – zum Temporallappen gehören der auditive Cortex genauso wie der Hippocampus und das Wernicke-Sprachzentrum.
Cingulärer Cortex
Cingulärer Cortex/Cortex cingularis/cingulate cortex
Ein Bestandteil des präfrontalen Cortex, der sich auf der Stirnseite des Gehirns befindet. Wie ein halber Donut windet sich der cinguläre Cortex um den Balken. Funktionell gehört er zum limbischen System, das triebgesteuerte Verhaltensweisen reguliert.
Emotionen
Emotionen/-/emotions
Unter „Emotionen“ verstehen Neurowissenschaftler psychische Prozesse, die durch äußere Reize ausgelöst werden und eine Handlungsbereitschaft zur Folge haben. Emotionen entstehen im limbischen System, einem stammesgeschichtlich alten Teil des Gehirns. Der Psychologe Paul Ekman hat sechs kulturübergreifende Basisemotionen definiert, die sich in charakteristischen Gesichtsausdrücken widerspiegeln: Freude, Ärger, Angst, Überraschung, Trauer und Ekel.
Insellappen
Insellappen/Lobus insularis/insula
Der Insellappen ist ein eingesenkter Teil des Cortex (Großhirnrinde), der durch Frontal-, Temporal– und Parietallappen verdeckt wird. Diese Überlagerung wird Opercula (Deckel) genannt. Die Insula hat Einfluss auf die Motorik und Sensorik der Eingeweide und gilt in der Schmerzverarbeitung als Verbindung zwischen kognitiven und emotionalen Elementen.
Parietallappen
Parietallappen/Lobus parietalis/parietal lobe
Wird auch Scheitellappen genannt und ist einer der vier großen Lappen der Großhirnrinde. Er liegt hinter dem Frontal– und oberhalb des Occipitallappens. In seinem vorderen Bereich finden somatosensorische Prozesse statt, im hinteren werden sensorische Informationen integriert, wodurch eine Handhabung von Objekten und die Orientierung im Raum ermöglicht werden.
Selbst-Erkennen ist nicht gleich Selbsterkenntnis
Wenn Menschen über das Bild von sich selbst sprechen, dann nutzen sie Wörter wie Selbstbewusstsein oder Selbsterkenntnis. Wissenschaftler bezeichnen mit diesen Begriffen allerdings häufig andere Dinge. „In der Alltagssprache ist das Wort ‚Selbstbewusstsein‘ konnotiert mit der Eigenschaft, von sich selbst eine hohe Meinung zu haben und das auch zu zeigen. Für uns Wissenschaftler bedeutet der Begriff jedoch, dass man sich seiner selbst bewusst ist, also sich selbst reflektieren kann. Deswegen spreche ich von Ich-Bewusstsein“, sagt der Entwicklungspsychologe Norbert Zmyj.
Sich selbst im Spiegel zu erkennen reicht noch nicht für ein Ich-Bewusstsein. Das zeigen zum Beispiel die Versuche der Neurowissenschaftlerin Mariia Kaliuzhna. Sie untersucht für ihre Doktorarbeit an der Ecole polytechnique fédérale im schweizerischen Lausanne, wie Menschen mit neurologischen und psychischen Krankheiten sich selbst wahrnehmen. „Ein Mann, der einen Hirnschlag hatte und deswegen einen Gedächtnisschwund, besteht den Spiegel-Test: Er versteht das Prinzip des Spiegels und kann sich selbst erkennen. Allerdings erinnert er sich an keine Informationen zu seiner Persönlichkeit. Das Selbst-Erkennen ist also möglich, die Selbst-Erkenntnis aber nicht.“ Es gibt auch den umgekehrten Fall: Menschen mit einer Schädigung in einem bestimmten Bereich des Schläfenlappens können keine Gesichter erkennen, noch nicht einmal ihr eigenes. Abgesehen von dieser Einschränkung nehmen diese Menschen sich selbst ganz normal wahr.
Auch Entwicklungspsychologen wie Norbert Zmyj beobachten: Erst viele Monate, nachdem ein Kleinkind sich selbst im Spiegel erkannt hat, entwickelt es die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis. Damit meinen die Forscher nicht, wie es im Rest der Gesellschaft verstanden wird, eine erleuchtende Einsicht oder die Weisheit nach einem langen Leben. Vielmehr sprechen Forscher von Selbsterkenntnis, wenn ein Kind versteht, dass etwas nur in der eigenen Wahrnehmung so ist, dass also ein anderer etwas ganz anderes sehen, empfinden und bewerten kann. Erste Erkenntnisse in dieser Richtung zeigen schon eineinhalbjährige Kinder, doch das volle Bewusstsein dafür kommt erst später. „Selbsterkenntnis entspricht also der Theory of Mind und gelingt Kindern erst mit etwa drei, vier Jahren“, sagt Norbert Zmyj. Das rothaarige Kleinkind aus dem Video wird noch eine Weile vor dem Spiegel stehen, bis es sein Ich-Bewusstsein entwickelt.
Temporallappen
Temporallappen/Lobus temporalis/temporal lobe
Der Temporallappen ist einer der vier großen Lappen des Großhirns. Auf Höhe der Ohren gelegen erfüllt er zahlreiche Aufgaben – zum Temporallappen gehören der auditive Cortex genauso wie der Hippocampus und das Wernicke-Sprachzentrum.
Wahrnehmung
Wahrnehmung/Perceptio/perception
Der Begriff beschreibt den komplexen Prozess der Informationsgewinnung und –verarbeitung von Reizen aus der Umwelt sowie von inneren Zuständen eines Lebewesens. Das Gehirn kombiniert die Informationen, die teils bewusst und teils unbewusst wahrgenommen werden, zu einem subjektiv sinnvollen Gesamteindruck. Wenn die Daten, die es von den Sinnesorganen erhält, hierfür nicht ausreichen, ergänzt es diese mit Erfahrungswerten. Dies kann zu Fehlinterpretationen führen und erklärt, warum wir optischen Täuschungen erliegen oder auf Zaubertricks hereinfallen.