Frage an das Gehirn
Was passiert beim Bungeesprung im Kopf?
Veröffentlicht: 18.03.2018
Freiwillig von Brücken springen – warum tun Leute sowas. Und was passiert beim Bungeesprung im Kopf?
Die Antwort der Redaktion lautet:
Surjo Soekadar, Leiter der Arbeitsgruppe Angewandte Neurotechnologie am Universitätsklinikum Tübingen: Es gibt Millionen Menschen, die Bungee springen. Beim ersten Mal ist das meist eine reine Mutprobe. Hinterher sind die Personen aber extrem euphorisch und sehen die Welt oft mit anderen Augen. Für manche wird das dann zum Sport; sie werden regelrecht süchtig. Was bei diesem Extremereignis im Kopf passiert, ist also auch sehr interessant für uns Forscher.
Aber wir hatten noch einen anderen handfesten wissenschaftlichen Grund, Bungeesprünge zu studieren. Man weiß seit langem, dass anderthalb Sekunden vor einer willentlichen Handlung ein sogenanntes „Bereitschaftspotenzial“ im Gehirn auftritt. Das ist eine extrem schwache elektrische Spannungsverschiebung im Millionstel-Volt-Bereich. Interessant ist, dass diese Spannungsverschiebung bereits auftritt, bevor man die bewusste Entscheidung für eine Handlung fällt. Der Sprung wird also unbewusst vorbereitet.
Ein Teil der Neurowissenschaftler bezweifelt aufgrund des Bereitschaftspotenzials sogar, dass es einen freien Willen gibt. Schließlich habe das Gehirn schon alles vorbereitet, bevor unser Bewusstsein ins Spiel kommt. Der freie Wille sei also eine Illusion. Bis zu unserem Experiment wurde das Bereitschaftspotenzial aber noch nie außerhalb des Labors gemessen. Wir wollten deshalb prüfen, ob und in welcher Form es bei einem Bungeesprung, für den man viel Überwindung und Willenskraft aufbringen muss, auftritt.
Zwei semiprofessionelle Klippenspringer aus einem Turmspringerverein meldeten sich freiwillig für das Experiment. Wir trafen uns alle in Innsbruck auf der Europabrücke. Dort befindet sich in 192 Metern Höhe die zweithöchste Bungeeplattform in Europa. Die Springer konnten selber entscheiden wann und wie oft sie springen. Vor den Sprüngen setzten sie sich eine Kappe mit acht Elektroden auf, über die wir ihre Hirnströme messen konnten. Die Signale wurden über eine Funkverbindung auf unseren Computer übertragen.
Damit wir die Sprünge auswerten konnten, mussten sie immer auf dieselbe Weise springen: Sie gingen auf die Zehenspitzen und ließen sich vornüber in die Tiefe fallen. Das können nur Profis. Laien haben enorme Schwierigkeiten, mit der angeborenen Höhenangst umzugehen. Sie bekommen Schweißausbrüche, ihnen zittern die Knie. Sie sind nicht im Stande, die Bewegungen kontrolliert auszuführen. Vor allem unkontrollierte Muskelaktivität macht es dann schwierig, ein so schwaches elektrisches Signal, wie das Bereitschaftspotenzial, zweifelsfrei nachzuweisen.
Bei den beiden Springern sahen wir aber schon nach wenigen Sprüngen, dass sich tatsächlich anderthalb Sekunden, bevor sie auf die Zehen gingen, das Bereitschaftspotenzial aufbaute. Es war nicht bei beiden gleich lang und gleich stark, aber es war deutlich zu sehen.
Auch sonst passiert viel im Kopf: Kurz vor dem Sprung nimmt die alpha-Aktivität ab. Die alpha-Aktivität über den motorischen Großhirnarealen hat viel mit Bewegungsvorbereitung und Bewegungsplanung zu tun. Wenn man ganz entspannt ist, nimmt diese Schwingung zwischen 8 und 15 Hertz zu. Während des Sprungs dominiert dann eine beta-Aktivität. Sie dient der Muskelsteuerung.
Trotz unserer Experimente gibt es noch offene Fragen, was beim Bungeespringen genau im Kopf vor sich geht. Die Springer sind hinterher extrem euphorisch. Es werden sehr viele Endorphine frei. Wahrscheinlich hängen das Überwinden der Ängste mit schierer Willenskraft und diese enorme Belohnungsreaktion miteinander zusammen. Aber wie? Und vor allem wollen wir künftig prüfen, ob es möglich ist, nach dem Auftreten des Bereitschaftspotenzials den Sprung abzubrechen. Ich würde vermuten, ja, denn die Signale im Gehirn sind kein vorprogrammierter Pfad. Auch unbewusst vorbereitete Handlungen können noch bewusst abgebrochen werden. Ein wichtiges Argument für den freien Willen, oder besser: den „freien Un-Willen“.
Aufgezeichnet von Susanne Donner