Akuter Stress führt zu dynamischen Veränderungen im Gehirn
Haben Mathematikaufgaben Sie in der Schule unter Stress gesetzt? So erging es Probanden einer Studie zur Reaktion des Gehirns auf Stress. Forscher betrachteten darin erstmals die gesamte Dauer einer solchen Situation. Sie fanden nicht nur Veränderungen in der Kommunikation von Hirnregionen, sondern einen dynamischen Prozess: Verschiedene Netzwerke agierten unterschiedlich im Lauf der akuten Belastung. Daraus konnten die Wissenschaftler ablesen, wie anfällig eine Person für eine negative Grundstimmung war und wie sich dadurch ihr Risiko für eine psychische Erkrankung erhöhte.
Published: 17.02.2022
Haben Mathematikaufgaben Sie in der Schule unter Stress gesetzt? So erging es Probanden einer Studie zur Reaktion des Gehirns auf Stress. Forscher betrachteten darin erstmals die gesamte Dauer einer solchen Situation. Sie fanden nicht nur Veränderungen in der Kommunikation von Hirnregionen, sondern einen dynamischen Prozess: Verschiedene Netzwerke agierten unterschiedlich im Lauf der akuten Belastung. Daraus konnten die Wissenschaftler ablesen, wie anfällig eine Person für eine negative Grundstimmung war und wie sich dadurch ihr Risiko für eine psychische Erkrankung erhöhte.
Bisher wussten Experten wenig über die dynamischen Prozesse im Gehirn bei akutem Stress. Im Vordergrund ihrer Forschung stand meist, welche Areale zu einem bestimmten Zeitpunkt aktiv sind. Jetzt aber haben Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie (MPI) und der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Tübingen über den gesamten Zeitraum einer belastenden Situation, wie dem Lösen einer kniffligen Rechenaufgabe, beobachtet, was im Gehirn geschieht. „Unsere Studie zeigt nicht nur, wo Veränderungen auftreten, sondern wie verschiedene Hirnregionen zusammenspielen und wie sich ihre Kommunikation im Lauf der Situation verändert“, fasst Erstautorin Anne Kühnel vom MPI zusammen. Die Ergebnisse der Studie wurden kürzlich in der Fachzeitschrift Biological Psychiatry veröffentlicht.
Die Probanden sollten im Magnetresonanztomographen unter Zeitdruck Matheaufgaben lösen. Die dynamische Reaktion der Netzwerke im Gehirn der Studienteilnehmer in dieser Stresssituation fiel unterschiedlich aus. Die Wissenschaftler konnten sie damit in Verbindung bringen, wie ängstlich oder niedergeschlagen ihre Teilnehmer waren. Bekannt ist: Je ängstlicher, zurückhaltender oder depressiver, je negativer die Grundstimmung eines Menschen, desto höher ist das Risiko einer psychischen Erkrankung. „Die veränderte Kommunikation zwischen den Gehirnarealen stützt die These, dass psychische Störungen Netzwerk-Erkrankungen sind, bei denen das Zusammenwirken von neuronalen Einheiten gestört ist“, sagt MPI-Direktorin Elisabeth Binder und fährt fort: „Die neuen Erkenntnisse sind wichtig für die Entwicklung individuellerer Diagnosen und personalisierter Therapien.“
Gerade für individualisierte Ansätze in der Behandlung von stressbedingten Erkrankungen sieht Nils Kroemer, der die Arbeitsgruppe Computational Psychiatry in Tübingen leitet, großes Potenzial durch die neue Studie: „Wir konnten erstmals zeigen, wie wichtig individuelle Muster der Stressantwort im Gehirn sind, um das Erleben von Stress – einschließlich ungünstiger Nachwirkungen der Belastung – besser zu verstehen. In der Zukunft könnten wir unsere dynamischen Modelle der Hirnantwort einsetzen, um beispielsweise die gezielte Wirkung von Medikamenten zu untersuchen, die die Stressantwort bei Personen mit einem hohen Risiko verbessern könnten.“
Die Wissenschaftler bezogen Menschen mit und ohne affektive Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen in ihre Studie ein. Neben Aufnahmen im Magnetresonanztomographen maßen sie das Stresshormon Cortisol und die Herzfrequenz. Die Probanden nahmen an der BeCOME-Studie teil, in der Forschende des MPI Biomarker suchen, die als objektive Messwerte wichtige Aussagen über psychische Erkrankungen liefern.
Depression
Depression/-/depression
Phasenhaft auftretende psychische Erkrankung, deren Hauptsymptome die traurige Verstimmung sowie der Verlust von Freude, Antrieb und Interesse sind.
Cortisol
Cortisol/-/cortisol
Ein Hormon der Nebennierenrinde, das vor allem ein wichtiges Stresshormon darstellt. Es gehört in die Gruppe der Glucocorticoide und beeinflusst im Körper den Kohlenhydrat– und Eiweißstoffwechsel.
Biomarker
Biomarker/-/biomarker
In der Medizin versteht man unter einem Biomarker eine Substanz, die Hinweise auf den physiologischen Zustand eines Organismus gibt. Biomarker können entweder im Körper selbst entstehen oder chemische Verbindungen beschreiben, die Ärzte dem Körper zuführen, um an ihrem Schicksal bestimmte physiologische Funktionen zu testen. In Bezug auf die Alzheimer-Krankheit sind mehrere Indikatoren als mögliche Biomarker im Gespräch. Hierbei handelt es sich beispielsweise um die Konzentration an löslichem Amyloid-Vorläuferprotein im Blut sowie um die Aktivität des Enzyms, welches das Vorläuferprotein so zerschneidet, dass hieraus das plaquebildende Beta-Amyloid hervorgeht. Oft werden auch krankheitsbezogene Veränderungen, die mit bildgebenden Verfahren nachgewiesen werden, als Biomarker bezeichnet. So kann man zum Beispiel den Abbau von Gehirngewebe im MRT erkennen.
Originalpublikation
Anne Kühnel, Michael Czisch, Philipp G. Sämann, BeCOME working group, Elisabeth B. Binder, Nils B. Kroemer; Spatio-temporal dynamics of stress-induced network reconfigurations reflect negative affectivity; Biological Psychiatry; https://dx.doi.org/10.1016/j.biopsych.2022.01.008