Was wir denken, verändert, wie wir etwas fühlen
Nehmen wir die Welt immer gleich wahr? Ein Hypnose-Experiment belegt, dass wir das nicht tun.
Veröffentlicht: 11.05.2023
Wenn wir ernsthaft annehmen, unser Zeigefinger sei fünfmal größer, verbessert sich unsere Tastfähigkeit. Das konnten Forschende der Ruhr-Universität Bochum mit einem Experiment nachweisen, für das die Teilnehmenden professionell hypnotisiert wurden. Wurde ihnen dagegen suggeriert, der Zeigefinger sei fünfmal kleiner, verschlechterte sich ihr Tastempfinden entsprechend. Die Studie belegt, dass unsere Gedanken beeinflussen können, wie wir etwas fühlen. Darüber ist die Wissenschaft bislang uneins. Die Forschenden um Privatdozent Dr. Hubert Dinse, Prof. Dr. Albert Newen und Prof. Dr. Martin Tegenthoff berichten in der Zeitschrift Scientific Reports vom 21. April 2023.
Zwei Nadeln fühlen sich an wie eine
Die Forschenden bestimmten das Tastempfinden der 24 Testpersonen mit der Methode der Zwei-Punkt-Diskrimination. Dabei liegt der Zeigefinger entspannt auf einer Apparatur, bei der zwei Nadeln immer wieder den Finger schmerzfrei, aber deutlich berühren. „Wir können dabei zwei Berührungspunkte unterscheiden, wenn die Nadeln weit genug auseinander stehen“, erklärt Hubert Dinse aus der Neurologischen Klinik des Berufsgenossenschaftlichen Universitätsklinikums Bergmannsheil. „Dagegen empfinden wir die Berührung nur an einer Stelle, wenn die Nadeln sehr eng beieinanderstehen.“ Bei einem bestimmten Abstand der Nadeln wechselt die Empfindung vom Spüren von zwei zum Spüren von nur einer Berührung. Diese Empfindungsgrenze ist für jede Person unter Alltagsbedingungen stabil.
Wenn der Finger fünfmal größer wäre
„Wir wollten wissen, ob man diese Empfindungsgrenze verändern kann, indem man bei einer Person einen sprachlich formulierten Gedanken aktiviert“, erläutert Albert Newen vom Institut für Philosophie II der Ruhr-Universität Bochum. Das Forschungsteam wählte zwei Gedankeninhalte: „Stellen Sie sich vor, Ihr Zeigfinger ist fünfmal kleiner“ und „Stellen Sie sich vor, Ihr Zeigefinger ist fünfmal größer.“ Um diese Denkinhalte gezielt zu aktivieren, verwendeten die Forschenden die Methode der hypnotischen Suggestion. Während eines kontrollierten Zustands der Hypnose durch einen professionellen Hypnotiseur wurde die Testperson gebeten, für eine Testreihe die erste Überzeugung und später dann die zweite ernsthaft anzunehmen.
Die Testpersonen nahmen insgesamt an vier Experimenten teil, um jeweils die Empfindungsgrenze zu ermitteln: Unter normalem Alltagsbewusstsein, unter Hypnose ohne Suggestion sowie unter Hypnose mit den beiden Suggestionen, dass der Finger entweder größer oder kleiner wäre.
Berührungsempfinden verändert sich
„Normales Bewusstsein und Hypnose ohne Suggestion führte zu keinem Unterschied in der Empfindungsgrenze. Dies belegt unsere Vorannahme, dass Hypnose allein keine Veränderung erzeugt“, berichtet Martin Tegenthoff. „Führt man aber unter Hypnose die Überzeugungen als Suggestionen ein, lässt sich eine systematische Veränderung der Empfindungsgrenze beobachten.“ Stellten sich die Versuchspersonen vor, ihr Zeigefinger sei fünfmal größer, dann verbesserte sich die Empfindungsgrenze und die Person konnte auch zwei Berührungen bei geringerem Abstand der Nadeln wahrnehmen. Bei der Suggestion eines fünfmal kleineren Zeigefingers verschlechterte sich die Empfindungsgrenze. Es sind also die Überzeugungen, die die Wahrnehmung verändern. Die Verhaltensergebnisse wurden durch Messungen neuronaler Aktivität wie spontanes EEG und sensorisch evozierte Potentiale untermauert.
Die Wissenschaft ist gespalten in der Frage, ob Wahrnehmungsprozesse von Denkinhalten alleine beeinflusst werden können oder nicht – Experten sprechen von der Frage der kognitiven Durchdringung. „Unsere Studie liefert einen weiteren Baustein dafür, dass es solche Top-Down-Einflüsse von Überzeugungen auf Wahrnehmungen tatsächlich gibt“, unterstreicht Hubert Dinse. „Wie wir die Welt erleben, hängt auch davon ab, welche Überzeugungen wir haben.“
Wahrnehmung
Wahrnehmung/Perceptio/perception
Der Begriff beschreibt den komplexen Prozess der Informationsgewinnung und –verarbeitung von Reizen aus der Umwelt sowie von inneren Zuständen eines Lebewesens. Das Gehirn kombiniert die Informationen, die teils bewusst und teils unbewusst wahrgenommen werden, zu einem subjektiv sinnvollen Gesamteindruck. Wenn die Daten, die es von den Sinnesorganen erhält, hierfür nicht ausreichen, ergänzt es diese mit Erfahrungswerten. Dies kann zu Fehlinterpretationen führen und erklärt, warum wir optischen Täuschungen erliegen oder auf Zaubertricks hereinfallen.
EEG
Elektroencephalogramm/-/electroencephalography
Bei dem Elektroencephalogramm, kurz EEG handelt es sich um eine Aufzeichnung der elektrischen Aktivität des Gehirns (Hirnströme). Die Hirnströme werden an der Kopfoberfläche oder mittels implantierter Elektroden im Gehirn selbst gemessen. Die Zeitauflösung liegt im Millisekundenbereich, die räumliche Auflösung ist hingegen sehr schlecht. Entdecker der elektrischen Hirnwellen bzw. des EEG ist der Neurologe Hans Berger (1873−1941) aus Jena.
Originalpublikation
Marius Markmann, Melanie Lenz, Oliver Höffken, Agnė Steponavičiūtė, Martin Brüne, Martin Tegenthoff, Hubert Dinse, Albert Newen: Hypnotic suggestions cognitively penetrate tactile perception through top-down modulation of semantic contents, in: Scientific Reports, 2023, DOI: 10.1038/s41598-023-33108-z