Frage an das Gehirn
Lassen sich Nahtod-Erfahrungen neurobiologisch erklären?
Veröffentlicht: 25.10.2012
Von einem strahlenden Licht am Ende eines dunklen Tunnels berichten viele Menschen, die dem Tod gerade noch einmal von der Schippe gesprungen sind. Doch sind Nahtod-Erlebnisse eine spirituelle Erfahrung oder Produkt eines Gehirns an der Schwelle des Todes?
Die Antwort der Redaktion lautet:
Dr. med. Birk Engmann, Facharzt für Neurologie und Nervenheilkunde in Leipzig:
Nahtod-Erfahrungen werden oftmals blumig geschildert und weit gefasst: Betroffene berichten von Gefühlen des Friedens, von Wärme, Licht, einem Tunnelblick, von szenischen Erinnerungen oder so genannten Out-of-Body-Experiences, das heißt dem Gefühl, außerhalb seines Körpers zu sein. Das Problem ist: Solche Erlebnisse gibt es nicht nur nach einem überstandenen klinischen Tod, sondern auch im Alltag, bei Krankheiten wie Epilepsie oder wenn jemand Drogen missbraucht. Im Gehirn können also verschiedene Dinge die gleichen Reaktionen auslösen. Ich hatte einen Klienten, der über Lichtvisionen sprach und meinte, eine Nahtod-Erfahrung gehabt zu haben. Es stellte sich heraus, dass er niemals in seinem Leben klinisch tot gewesen war. Und von Nahtod spricht man, wenn jemand einen klinischen Tod überlebt hat.
Es ist nicht genau geklärt, was speziell im klinischen Tod diese Erscheinungen hervorruft. Man kann Nahtod-Phänomene nicht genau in dem Moment untersuchen, während sie wahrscheinlich auftreten, also beim gerade eingetretenen Hirntod. Während einer Reanimation wäre ein „Herumexperimentieren“ aus reiner Neugier keinesfalls ethisch vertretbar.
Eine gängige Theorie ist jedoch: Die Erfahrungen nach einem überstandenen klinischen Tod lassen sich als Ausdruck einer Hirnfunktionsstörung einschätzen. Wenn jemand klinisch tot ist, also das Herz stillsteht, dann zirkuliert kein Blut mehr durch den Körper. Deswegen werden alle Organe nicht mehr mit genügend Sauerstoff und Nährstoffen, vor allem Zucker, versorgt. Das Gehirn kann nur zirka fünf Minuten ohne Sauerstoff auskommen, danach sterben Nervenzellen ab. Dann kommt es zu unumkehrbaren Schäden und schließlich zum Hirntod. Wenn beim Nahtod das Gehirn zu wenig Sauerstoff bekommt, dann kann es nicht mehr richtig funktionieren: Signale werden nicht mehr richtig übertragen.
Und so können beispielsweise Lichtvisionen im Hinterhauptslappen entstehen, der visuellen Input verarbeitet, obwohl gar kein Licht da ist. Außerkörperliche Erfahrungen wiederum dürften im Bereich des Scheitel– und Schläfenlappens entstehen, denn diese Hirnregionen sind wichtig für das Selbsterleben des eigenen Körpers und seiner Verortung im Raum. Das hört aber auf, wenn man den Nahtod überstanden hat und wieder genügend Sauerstoff im Gehirn ankommt.
Eine andere Hypothese geht davon aus, dass bei einer Nahtod-Erfahrung Botenstoffe beteiligt sind: In dieser Stress-Situation würden bestimmte Botenstoffe freigesetzt, die die Nahtod-Erfahrungen hervorrufen. Welche Botenstoffe das sein sollen, weiß man nicht. Dies bleibt nach wie vor im Bereich des Hypothetischen.
Hinzu kommt, dass Nahtod-Erfahrungen durch eigene religiöse Ansichten und die eigene Biographie geprägt werden können. Das Tunnelphänomen ist in der Laienliteratur ein Symbol für den Übergang vom Leben zum Tod geworden, das zeigt ja schon, dass so oft das Ölgemälde „Aufstieg in das himmlische Paradies“ von dem Maler Hieronymus Bosch gezeigt wird, wenn über Nahtod berichtet wird. Dabei berichten – je nach Studie – nur 10 bis 20 Prozent derjenigen, die einen klinischen Tod überlebt haben, von solch einer Tunnel-Erfahrung.
Aufgezeichnet von Franziska Badenschier
Zum Weiterlesen:
Engmann, B.: Mythos Nahtoderfahrung. Hirzel, 2012.
Neuron
Neuron/-/neuron
Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.
Okzipitallappen
Okzipitallappen/Lobus occipitalis/occipital lobe
Einer der vier großen Lappen der Großhirnrinde. Der Okzipital– oder Hinterhauptslappen liegt über dem Kleinhirn. Nach vorne grenzt er an den Scheitel– sowie an den Schläfenlappen an. Der Sulcus calcarinus unterteilt den Okzipitallappen in eine obere und eine untere Hälfte, den Cuneus und den Gyrus lingualis. Funktional findet in diesem Bereich des Gehirns die zentrale Verarbeitung visueller Informationen statt — sowohl die primäre als auch die sekundäre Sehrinde haben ihren Sitz im Okzipitallappen.
Temporallappen
Temporallappen/Lobus temporalis/temporal lobe
Der Temporallappen ist einer der vier großen Lappen des Großhirns. Auf Höhe der Ohren gelegen erfüllt er zahlreiche Aufgaben – zum Temporallappen gehören der auditive Cortex genauso wie der Hippocampus und das Wernicke-Sprachzentrum.