Schimpansen-Schach
Die nächsten lebenden Verwandten des Menschen sind nicht nur intelligent – sie haben auch eine Idee davon, was im Kopf ihrer Artgenossen vorgeht. Aber woher wissen das wiederum die Forscher? Besuch in einer Schimpansen-Wohngemeinschaft.
Veröffentlicht: 01.12.2011
Niveau: mittel
- Primatenforscher in Leipzig versuchen herauszufinden, ob Menschenaffen ähnlich wie Menschen eine Idee davon haben, was im Kopf ihrer Artgenossen vorgeht.
- Technische Messungen wie fMRT sind bei Tieren bisher kaum anwendbar, deshalb beschränken sich die Wissenschaftler auf Verhaltensexperimente, um Aufschluss über die Mechanismen der Informationsverarbeitung zu erhalten.
- Aus Sicht des Max-Planck-Experten Josep Call hat sich das Bild seit Ende der 90er gewandelt: Heute liegen starke Indizien dafür vor, dass Schimpansen Ziele, Absichten, Wissen und Nichtwissen anderer verstehen. Nur wenn der andere eine irrige Vorstellung hat, können sie sich nicht hineinversetzen.
Im 2001 eröffneten Pongoland im Leipziger Zoo leben Schimpansen, Bonobos, Gorillas und Orang-Utans unter artgerechten Bedingungen. Somit sind vergleichende Experimente mit allen vier Arten möglich – ein Alleinstellungsmerkmal. Neben Theory of Mind studieren die Forscher des Wolfgang-Köhler-Primatenforschungszentrums an den Tieren etwa Gestenkommunikation, Kooperation, Räumliche Kognition, Planung oder Kausalverständnis. Dies vermittelt Erkenntnisse über die Tiere, aber zumindest indirekt auch über eine weitere Menschenaffenart: homo sapiens, den Menschen. Auch werden – außerhalb von Pongoland – immer wieder Vergleichsstudien mit Menschen, vor allem mit Kleinkindern, in entsprechend angepasster Form durchgeführt.
Video zur Forschung
Die Luft ist mit Vogelgezwitscher und dem Rauschen mehrerer Wasserfälle erfüllt, strenger Tiergeruch steigt in die Nase. Plötzlich ertönt ohrenbetäubendes Gekreisch: Eine Gruppe junger Schimpansen hat eine Keilerei angezettelt, die ganze Sippe ist in Aufruhr. Im „Pongoland“ im Leipziger Zoo fühlt sich der Besucher schnell, als wäre er im Dschungel. Bambus-Dickicht, reetgedeckte Hütten und ein verstaubter Uralt-Truck vermitteln Safari-Feeling. Hier in der Tropenhalle bei schwülen 22 Grad leben Gorillas, Bonobos, Orang-Utans und Schimpansen, insgesamt etwa 50 Tiere, aufgeteilt in artgleiche Wohngemeinschaften.
Hier arbeiten aber auch die Forscher des Wolfgang-Köhler-Primatenforschungszentrums (WKPFZ). Wer es schafft, das Spektakel auszublenden, das die Tiere in ihren Gehegen veranstalten, bekommt durch vier Schaufenster zeitweilig Einblick in die Wissenschaft. Denn hinter den Scheiben werden die Menschenaffen an den meisten Vormittagen zu tierischen Probanden.
Nase
Nase/Nasus/nose
Das Riechorgan von Wirbeltieren. In der Nasenhöhle wird die Luft durch Flimmerhärchen gereinigt, im oberen Bereich liegt das Riechepithel, mit dem Gerüche aufgenommen werden.
Menschenaffen als Probanden
So wie die Schimpansen Alex und Annett, die hier vor einiger Zeit an einem Versuch teilnahmen und dabei auf Video aufgezeichnet wurden. Die beiden sitzen sich gegenüber, voneinander und vom Forscher durch Gitterstäbe getrennt. In dem nüchternen Versuchsraum erregt vor allem eines ihr Interesse: kleine Bananenpellets. An das begehrte Naschwerk zu kommen, macht ihnen der Forscher aber nicht gerade leicht. Vor Annett stellt er eine Sichtbarriere, dann legt er zwei Pellets auf ein zwischen den Affen befindliches Brett und deckt sie mit kleinen blauen Plastikplatten zu, was der Affe Alex gut beobachten kann.
Eins der Pellets verschwindet allerdings in einer Vertiefung, so dass der Deckel flach aufliegt, während der zweite schräg steht. Nun dürfen die Affen nacheinander auf eins der Plättchen deuten und bekommen, was darunter liegt. Als Erste ist Annett dran. Sie darf wieder schauen, dafür bekommt jetzt Alex einen Sichtschutz verpasst. Er sieht also nicht, wo Annett zugreift, und muss seine Wahl zudem treffen, ohne die Lage der Deckel noch einmal begutachten zu können. Dennoch deutet er auf die richtige Seite – und findet ein Bananenpellet. Woher weiß er, wie Annett entschieden hat?
Josep Call, Direktor des WKPFZ, ein Mann mit hoher Stirn, dessen restliches Gesicht hinter seinem struppigen Vollbart fast verschwindet, hat eine Erklärung: „Schimpansen sind in der Lage, ihrem Gegenüber bestimmte Präferenzen oder Rückschlüsse zuzuschreiben“, sagt er. Soll heißen: Alex war klar, dass Annett nicht zusehen konnte, als der Experimentator die Pellets versteckte. Deshalb konnte er davon ausgehen, dass sie aufgrund des äußeren Anscheins die verräterisch schräge Plastikplatte wählen würde.
Haben Schimpansen eine Theory of Mind?
Derartige Vorstellungen darüber, was im Kopf eines anderen vorgeht, nennen die Psychologen „Theory of Mind“. Für Menschen ein selbstverständlicher, oft unbewusst ablaufender Vorgang: Wir können zwar nicht in den Kopf des anderen hineinschauen, aber uns in seine Situation hineinversetzen und so eine halbwegs zuverlässige Vorstellung davon bekommen, was er wissen kann, welche Schlüsse er ziehen wird. Ohne diese Fähigkeit wäre komplexere Kommunikation und Kooperation kaum möglich. Aber das sind nach dem üblichen Verständnis Spezialitäten des homo sapiens – also sollte doch auch die „Theory of Mind“ eine Domäné der Menschen sein. Oder etwa doch nicht?
Genau das wollen Call und seine Kollegen mit ihren Versuchen klären. Johannes Großmann, ein großer junger Mann in grüner „Pongoland“-Jacke, spricht vom „Schimpansen-Schach“: Die Tiere kommen abwechselnd an die Reihe und profitieren, wenn sie die Strategie des Gegenübers durchschauen. Der Biologe hat als Forschungskoordinator des WKPFZ Überblick über die Aktivitäten seiner Wissenschaftlerkollegen – und kennt alle Affen inklusive Biografie und sozialem Status. „Alles, was wir hier machen, ist nicht-invasiv“, sagt er. Ausschließlich Verhaltensforschung stehe auf dem Programm, „die Tiere nehmen freiwillig teil“. Für Motivation sorgt dabei, ganz ähnlich wie bei Verhaltensexperimenten mit Menschen, eine Belohnung, etwa in Form von Bananen oder Weintrauben.
Wer Menschenaffen in Zoos halte, stehe ohnehin vor der Herausforderung, sie ausreichend zu beschäftigen, erklärt Großmann. „In freier Wildbahn verbringen sie ja den ganzen Tag mit der Futtersuche.“ Da passten die Versuche gut ins Programm. Zwang, ja selbst spezielles Training seien verpönt. „Wir wollen schließlich rausfinden, was normalerweise im Kopf der Tiere passiert.“
Motivation
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Ein Motiv ist ein Beweggrund. Wird dieser wirksam, spürt das Lebewesen Motivation – es strebt danach, sein Bedürfnis zu befriedigen. Zum Beispiel nach Nahrung, Schutz oder Fortpflanzung.
Verhaltensexperimente statt Technik
Herausfinden, was im Kopf passiert: Bei Menschenaffen und überhaupt bei Tieren ist das eine besondere Herausforderung. Nicht nur, weil die Möglichkeit wegfällt, einfach nach den Gedanken zu fragen. Auch die bei Menschen so gern angewandten technischen Methoden scheiden im Großen und Ganzen aus, wie Josep Call erklärt: „Erst wenn es ein fMRT-Gerät gibt, das keinen Lärm macht, das es dem Probanden erlaubt, sich zu bewegen und in dem ein Versuch wie das Schimpansen-Schach gemacht werden kann – dann wird die Zeit dafür gekommen sein.“ Trotzdem wolle und könne man herausfinden, wie Menschenaffen Informationen verarbeiten: „Nicht auf neuronaler Ebene, aber auf funktioneller, etwa: Welche Repräsentationen werden gebildet, welchen Prozessen wird die Information unterworfen? Vergleicht man es mit einer Maschine, könnte man sagen, wir interessieren uns für die Software.“
Je nach Fragestellung müssen die Tiere etwa mit bestimmten Werkzeugen hantieren oder Seilzüge bedienen, erzählt Johannes Großmann. „Die Schwierigkeit ist, die Methode zu finden, mit der man jeweils genau das untersuchen kann, was man untersuchen will, und mit der sich gleichzeitig möglichst viele Alternativhypothesen ausschließen lassen“, sagt Großmann. Steht die Idee, kümmere sich ein vom WKPFZ dafür angestellter Ingenieur darum, die nötigen Versuchsaufbauten zu realisieren – „aus Stahl und Plexiglas, damit es die Affen nicht kaputt kriegen“.
Immer ähnlich läuft dagegen die Auswertung: Aufzeichnung per Videokamera. Zahlreiche Durchgänge an mehreren Tagen und mit möglichst vielen verschiedenen Tieren. Auswertung der Aufzeichnung durch den Versuchsleiter und einen weiteren, mit dem Versuch sonst nicht befassten Wissenschaftler. Zweck des ganzen Aufwands ist, dass sich verzerrende Einflüsse vom voreingenommenen Blick des Beobachters bis hin zur Tagesform einzelner Tiere in statistischem Wohlgefallen auflösen.
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Vom Praktikanten zum Schimpansenforscher
Für die Auswertung und sonstigen Tätigkeiten ziehen sich die Forscher denn auch in einen anderen Stadtteil Leipzigs zurück, in das ruhigere und angenehmer temperierte Gebäude des Max-Planck-Instituts für Evolutionäre Anthropologie, zu dem das WKPFZ gehört. Hier hat Josep Call, der Pongoland-Direktor, sein geräumiges Büro. Im Fleecepulli sitzt der gelernte Psychologe zwischen Papierstapeln und gut gefüllten Bücherregalen. Von Menschenaffen fasziniert ist er, seit er bei einem Schülerpraktikum im Zoo von Barcelona bei den Gorillas eingeteilt wurde – wider Willen, denn ursprünglich wollte er lieber zu den Elefanten oder Tigern. Seitdem haben ihn aber die nächsten, lebenden Verwandten des Menschen als Forschungsgegenstand nicht mehr losgelassen.
Mit seinem Kollegen Michael Tomasello hat Call die vielen Ergebnisse von Kollegen zum Thema zusammengetragen. So erkennen Schimpansen, wenn ein Mensch nach einem bestimmten Objekt greifen will. Unnatürliche Verhaltensweisen – etwa einen Lichtschalter mit dem Kopf zu betätigen – kopieren sie nur dann, wenn der Mensch sie ihnen aus freien Stücken vormacht. Tut er es dagegen, weil er die Hände nicht frei hat, erkennen die Schimpansen das Problem und benutzen selbst sehr wohl ihre Hände. Und viele Experimente konnten zeigen, dass Schimpansen im Wettbewerb um Essen ihr Verhalten danach richten, was der Wettbewerber sieht, hört und weiß.
Falsche Vorstellungen überfordern Schimpansen
Für Call gibt es aus alledem nur eine Schlussfolgerung: Schimpansen verstehen die Ziele und Absichten anderer und sie begreifen, was andere wissen können und was nicht. Was diese Aspekte von „Theory of Mind“ angeht, bewegen sich Schimpansen somit in etwa auf dem Niveau von Kindern im Vorschulalter – mit denen darum oft auch Vergleichsstudien in leicht angepasster Form durchgeführt werden. Eine grundsätzliche Einschränkung gegenüber dem menschlichen Verständnis für das Gegenüber stellten die Forscher allerdings fest. Call macht sich sofort daran, das Experiment zu beschreiben, das zu dieser Erkenntnis führte.
Weil Worte dazu nicht reichen, stellt er ein gepolstertes Knietischchen auf seinen Schoß. Gefaltete Zettel ersetzen umgedrehte Plastikbecher, Radiergummi und Büroklammer symbolisieren die darunter versteckten Belohnungen. Mal bleibt die Hautbelohnung an Ort und Stelle, mal wird ihre Position noch verändert – mal schaut der Gegenüber dabei zu, mal ist ihm die Sicht verwehrt. Geduldig erklärt Call die verschiedenen Durchläufe, welche die Tiere absolvierten. Das Ergebnis: Zwar können Schimpansen unterscheiden, ob ihr Gegenüber das aktuelle Versteck mitbekommen hat oder nicht. Wenn der Partner aber gezielt in die Irre geführt wird, also eine falsche Vorstellung (false belief) vom Versteck der Belohnung hat, dann realisieren Schimpansen nicht, dass er deshalb bei seiner Wahl daneben langen dürfte.
Ganz an die menschlichen Fähigkeiten scheinen Menschenaffen also nicht heranzukommen. Und doch sind ihre Leistungen weit größer, als Josep Call früher erwartet hätte. „Noch 1997 waren wir überzeugt, dass Schimpansen nichts von den gedanklichen Vorgängen in anderen verstehen“, erzählt er. Damals, als er und Tomasello ein Standardwerk über die kognitiven Fähigkeiten von Primaten veröffentlichten, meinten sie alles durch Anpassung an das äußere Verhalten des Gegenübers erklären zu können. Aber dann kamen eben Versuche wie das Schimpansen-Schach – und Call machte wieder einmal die Erfahrung, die er als die bleibende Konstante seiner Arbeit mit Menschenaffen sieht: „Sie überraschen uns immer wieder.“ Da gehe man mit klaren Erwartungen in ein Experiment, „und dann ohrfeigen dich die Daten und sagen: Nein, so ist es nicht. Dann musst du deine Theorie eben ändern.“
zum Weiterlesen:
- Call, J. and Tomasello, M.: Does the chimpanzee have a theory of mind? 30 years later. Trends in Cognitive Sciences. 2008; 12 (5):187 – 192 (zum Text).
- Kaminski, J. et al.: Chimpanzees know what others know, but not what they believe. Cognition. 2008; 109:224 – 234 (zum Text).
- Schmelz, M. et al.: Chimpanzees know that others make inferences. PNAS. 2011; 108 (7):3077 – 3079 (zum Abstract).
- Video zur Studie; URL: http://www.pnas.org/content/suppl/2011/01/21/1000469108.DCSupplemental/sm01.wmv [Stand: 01.21.2011]; zur Webseite.