Entscheidend: Bauchgefühl oder Verstand?
Soll man bei Entscheidungen der Intuition oder der Ratio vertrauen? Die Antwort ist umstritten, denn beide können in die Irre führen. Manche Forscher glauben: Eine Kombination aus Bauchgefühl und Reflektieren bringt die besten Ergebnisse.
Wissenschaftliche Betreuung: Prof. Dr. Henning Plessner
Veröffentlicht: 22.01.2015
Niveau: mittel
- In der Forschung ist seit Jahrzehnten umstritten, wie wichtig die Intuition bei der Entscheidungsfindung ist.
- Der Nobelpreisträger Daniel Kahneman geht davon aus, dass wir über zwei Denksysteme verfügen: Das schnelle, intuitive Denken und das langsame, vom Verstand dominierte Denken. Dabei ist vor allem das schnelle Denken nach seiner Auffassung fehleranfällig.
- Die Intuition kann irren, sie kann aber auch zu guten Ergebnissen führen. Deshalb raten einige Forscher, bei Entscheidungen eine Kombination aus intuitivem und reflektierendem Denken anzuwenden.
- Viele Neurowissenschaftler und Psychologen bezweifeln die These von Daniel Kahneman, dass es eine Dualität von zwei verschiedenen Denksystemen gibt. Sie vermuten ein Kontinuum zwischen Intuition und bewusstem Denken.
Der Psychologe Gerd Gigerenzer geht davon aus, dass intuitiven Entscheidungen, Heuristiken, einfache Faustregeln, zu Grunde liegen. Allerdings ist Gigerenzers Theorie in der Wissenschaftswelt umstritten. Einige Forscher gehen davon aus, dass intuitive Entscheidungen nicht zwangsläufig nach einfachen Regeln erfolgen müssen. Vor allem Menschen, die viel Erfahrung und Expertise auf einem Gebiet besitzen, könnten viele und komplexe Informationen parallel verarbeiten und in ihr Urteil einfließen lassen.
Ein Richter studiert die Akten zu einem Fall, in dem er bald urteilen soll. Ein Angestellter wird beschuldigt, Geld seiner Firma unterschlagen zu haben. Nach dem ersten Überfliegen der Dokumente erscheint dem Juristen die Beweislage nicht gerade überzeugend. Doch beim Aktenstudium hat ihn ein Gefühl beschlichen, das ihm sagt: Dieser Angestellte ist schuldig! Bald ist der Gerichtsprozess, spätestens dann muss der Richter eine Entscheidung treffen: Soll der Angestellte zu einer Geldstrafe verurteilt werden? Bei der Entscheidung in diesem fiktiven Fall hat der Richter die Möglichkeit, auf sein Bauchgefühl zu hören, oder ganz rational aus den Beweisen die Schuldwahrscheinlichkeit zu ermitteln.
Er hat also die Wahl zwischen Intuition und dem bewussten Durchdenken – die Forscher sprechen in letzterem Fall von der „Deliberation“. Vor einer solchen Wahl stehen auch Menschen häufig, die keine Richter sind: Soll ich das coole Handy kaufen, für das mein Herz schlägt, oder lieber das Smartphone mit den besten technischen Daten? Soll ich mir Aktien der Firma mit der überzeugendsten Umsatzentwicklung zulegen, oder von dem Unternehmen, von dem ich intuitiv glaube, dass es bald den Durchbruch erzielt?
Andauernder Streit
Seit Jahrzehnten herrscht in der Wissenschaftswelt ein Streit darüber, wann wir bei Entscheidungen auf unser Bauchgefühl hören und wann auf unseren Verstand. Auch die Frage, welche der beiden Strategien zu besseren Ergebnissen führt, wird kontrovers diskutiert. Bei manchen Ökonomen hält sich weiterhin die Überzeugung, dass die wirtschaftlich handelnden Personen vor allem auf ihren Verstand setzen. Beim Rest der Wirtschaftswissenschaftler, außerdem in der Psychologie und der Hirnforschung, hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass für Entscheidungen meist auch unbewusste Prozesse eine große Rolle spielen – allerdings ist umstritten, wie wichtig diese Rolle ist.
Dem Richter vom Beginn des Artikels will man spontan raten: Lies die Akten, klammere dein Bauchgefühl aus und entscheide nur nach rationalen Überlegungen! Schließlich soll das Urteil möglichst objektiv getroffen werden. Diesem Rat würde sich wahrscheinlich auch Daniel Kahneman anschließen.
Der Psychologe von der Princeton University hat 2002 den Wirtschaftsnobelpreis für seine Forschungen zur Entscheidungsfindung bekommen. Er postuliert, dass wir zwei Denksysteme besitzen: System 1, das schnelle Denken, funktioniert rasch und intuitiv und ermöglicht uns auf diese Weise, in Situationen unter Zeitdruck zügig eine Entscheidung zu treffen Unbewusstes Denken statt Sechster Sinn. Es ist vor allem bei Menschen fehleranfällig, die auf dem jeweiligen Gebiet der Entscheidung wenig Erfahrung haben. Deshalb haben wir noch das System 2, das langsame Denken. Es arbeitet gezielt und verstandesmäßig, braucht aber deshalb auch deutlich mehr Zeit. Kahneman glaubt, dass System 2, von der Ratio beherrscht, deutlich weniger zu Fehlern neigt.
Intuition kann überlegen sein
Viele Forscher sind in den letzten Jahrzehnten zu der Überzeugung gelangt, dass gerade in komplexen Situationen ausschließlich vom bewussten Verstand getriebene Entscheidungen eher selten sind. So sagte etwa der Psychologe Gerd Gigerenzer vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in einem Interview mit dasGehirn.info: „Man vergisst, wie wichtig Intuition ist, und wie wichtig einfache Regeln sind, die wir Heuristiken nennen, auf denen Intuition offenbar basiert, um in einer unsicheren Welt umzugehen“ Entscheidend ist das Bauchgefühl.
Mit Heuristiken bezeichnen Forscher wie Gerd Gigerenzer Faustregeln, nach denen Menschen oftmals entscheiden. Eine Regel ist beispielsweise: „Tue das, was deine Freunde machen“ – etwa wenn man das gleiche Handy kauft, mit dem bereits der Freund gute Erfahrungen gemacht hat. Und solche einfachen Regeln können bewusst angewendet werden. Meistens aber richtet man sich nach ihnen, ohne dass man es bemerkt – sie sind somit Teil der Intuition.
Das zeigt etwa ein Versuch von Forschern um die Sozialpsychologin Nalini Ambady von der Stanford University. Testpersonen sollten sich Fotos von Menschen verschiedener Religionsgruppen anschauen. Mit großer Treffsicherheit konnten die Probanden zuordnen, wer von den gezeigten Menschen ein Mormone war. Sie konnten aber nicht begründen, wie sie zu dieser Schlussfolgerung gekommen waren. Auch die Forscher waren zunächst ratlos. Erst nach vielen Versuchen fanden sie heraus, woran sich die Testpersonen unbewusst orientiert hatten: Es war die Hauttextur. Mormonen führen meist ein gesundes Leben, sie rauchen nicht und trinken weder Kaffee noch Alkohol, und haben deshalb oft eine bessere Haut als der Rest der Bevölkerung. Die unbewusste Faustregel lautete also offensichtlich: „Eine gesunde Haut macht es wahrscheinlicher, dass die gezeigte Person ein Mormone ist.“
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Intuition kann auch falsch sein
Im Fall der Einschätzung von Mormonen war also die Intuition ein guter Ratgeber. Richtet man sich nach ihr, kann man aber auch falsch liegen. Zu dem Ergebnis kam Andreas Glöckner von der Universität Göttingen, als er für eine Studie zusammen mit Forscherkollegen die Entscheidungsfindung von potenziellen Geschworenen untersuchte. Viele Geschworene richteten sich vor allem nach ihrer Intuition. Sie neigten dazu, aus den Beweisen eine schlüssige Geschichte zu konstruieren.
„Und sie vertreten diese Geschichte mit übertriebener Sicherheit“, sagt Andreas Glöckner. Die Geschworenen sollten, bevor sie sich mit einem Fall befassten, einschätzen, mit welcher Zuverlässigkeit man generell Zeugenaussagen trauen kann. Anschließend beschäftigten sie sich mit den Beweisen. Hatten sie sich daraus eine Geschichte konstruiert, die vor allem auf Zeugenaussagen beruhte, dann revidierten sie ihre generelle Einschätzung der Vertrauenswürdigkeit von solchen Aussagen. „Sie haben sich in die Tasche gelogen, nur damit ihre Geschichte stimmt“, erinnert sich Andreas Glöckner. Und diese Tendenz ist ihnen meist nicht bewusst.
In Deutschland gibt es keine Geschworenengerichte. Hierzulande fällen Richter und Schöffen die Urteile. Andreas Glöckner berät sie. Er sagt ihnen, sie sollten weder ausschließlich der Intuition, noch ausschließlich der Ratio vertrauen. „Die Intuition ist wichtig, um überhaupt mit sehr vielen Informationen umgehen zu können.“ Wenn man, wie der fiktive Richter vom Beginn des Artikels, ein komisches Gefühl bei einem Fall bemerkt, dann solle man das als Hinweis nehmen, um der Sache nachzugehen. „Dafür brauchen wir unsere bewussten Denkprozesse: Um intuitive Einschätzungen zu kontrollieren und mental zu simulieren“, sagt Andreas Glöckner. Vielleicht hat man unbewusst festgestellt, dass Informationen nicht zusammenpassen. Dann hat die Intuition beim Durchdenken eines Falles geholfen. Vielleicht hält man aber auch den Angeklagten für schuldig, nur weil er dem verhassten Nachbarn ähnlich sieht. Dann hat die Intuition in die Irre geführt.
Gibt es zwei Denksysteme?
Für Praktiker scheint also eine Kombination aus Intuition und bewusstem Nachdenken zu den besten Ergebnissen zu führen. In der Forschung bezweifeln zudem die meisten Neurowissenschaftler und Psychologen, dass es im Gehirn einen Gegensatz von zwei verschiedenen Denksystemen geben kann, wie ihn etwa Daniel Kahneman beschreibt Das Unbewusste ist wohl informiert.
So auch die Hirnforscherin Kirsten Volz von der Universität Tübingen: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass es zwei Systeme gibt, die von einer Art Chinesischen Mauer getrennt sind. Das Gehirn funktioniert anders, mit vielen Netzwerken, die sich alle gegenseitig beeinflussen.“
Eine Möglichkeit wäre, dass es ein Kontinuum zwischen Intuition und bewusstem Nachdenken gibt – eine Theorie, die nach Meinung von Kirsten Volz überprüft werden muss. Die dualistische Unterscheidung zwischen den beiden Denksystemen habe vor allem mit der Selbstwahrnehmung zu tun: Wenn wir glauben, eine Entscheidung nur auf Grund eines Gefühls getroffen zu haben, dann bezeichnen wir es als Intuition. Wenn wir dagegen spüren, dass wir etwas kognitiv durchdrungen haben, dann bezeichnen wir es als bewusstes Nachdenken. Dabei können in beiden Fällen die zugrunde liegenden Verrechnungen im Gehirn ganz ähnlich verlaufen sein.
Doch das ist vor allem für die Forscher interessant. Für Menschen, die Entscheidungen treffen müssen, ist vor allem wichtig: Beide Systeme schließen sich nicht aus, sie ergänzen sich bestens.
zum Weiterlesen:
- Gloeckner A, Wittemann C: Beyond dual-process models: A categorisation of processes underlying intuitive judgement and decision making. Thinking & Reasoning, (2010) Vol 16 (1), 1 – 25 (zum Abstract).
- Mega FM, Volz KG: Thinking about thinking: implications of the introspective error for default-interventionist type models of dual processes. Front Psychol, (2014) 5: 864 (zum Volltext).