Warum sich Bewegung und Geist nur zusammen denken lassen
Der Medizin-Nobelpreis wurde für ein Konzept der Hirnforschung verliehen, das gezeigt hat, wie und wo Raum und Zeit in unserer Wahrnehmung entstehen. Es bildet das Koordinatensystem für unser Erinnern und für das Zählen. Ob die Neurologie allerdings das ungeheure Detailwissen aus dem Gehirn tatsächlich schon bald auch für den Kampf gegen Alzheimer nutzen kann, bleibt vorerst eine willkommene Spekulation.
Veröffentlicht: 24.02.2015
Niveau: mittel
- Es ist vermutlich die Mobilität der Tiere, die – im Gegensatz bei den Pflanzen – Gehirne erforderlich macht.
- Bewegung erfordert Orientierung, benötigt ein Gedächtnis und ermöglicht Interaktion.
- Zur Navigation gibt es im Hippocampus, einem entwicklungsgeschichtlich alten Teil des Großhirns von Säugern, so genannte place cells. Diese bilden in ihrer Gesamtheit eine Art zellulärer Karte des wahrgenommenen Raumes.
- Ebenfalls im Hippocampus finden sich time cells – Nervenzellen die distinkte Momente in einer zeitlichen Abfolge von Ereignissen markieren.
Prof. Dr. Peter Thier studierte Biologie, Physik und Medizin in Essen, Hohenheim und Tübingen. Als Facharzt für Neurologie wurde er wissenschaftlich besonders am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt und am Massachusetts Institute of Technology geprägt. Seit 2001 ist er Direktor der Abteilung für Kognitive Neurologie am Hertie-Institut für Klinische Hirnforschung in Tübingen. Er forscht vor allem zur Interaktion von Bewegung und Sehen und zu den Mechanismen des motorischen Lernens und ihrer Störungen.
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Tiere haben Gehirne, Pflanzen nicht. Warum? Eine Antwort auf diese Frage liefert ein Blick auf eine erfolgreiche Gruppe von Tieren, die die Weltmeere besiedeln, die Seescheiden. Erwachsene Seescheiden kleben unbeweglich am Untergrund – nicht zuletzt auch an Schiffsrümpfen –, wo sie unermüdlich Nahrungspartikel aus dem Wasser filtrieren. Mit Blick auf ihre Erscheinung könnten sie problemlos als Pflanzen durchgehen. Sie haben kein Gehirn. Anders ihre Jugendform, die Seescheidenlarve, die freischwimmend die Umgebung erkundet. Es ist die Larve, die über primitive Sinnesorgane und ein primitives Gehirn verfügt. Das Gehirn wird gebraucht, um die Schwimmbewegungen zu kontrollieren, und es wird gebraucht, um Informationen, die die Sinnesorgane über die Umwelt und über die Bewegung der Larve anbieten, für deren Orientierung zu nutzen.
Seescheiden legen somit nahe, dass es die Mobilität sein könnte, die Gehirne erforderlich macht. Aber verbinden die Neurowissenschaften nicht mit unserem Gehirn Fähigkeiten, die uns weit komplexer und bedeutsamer erscheinen als die Bewegung: Sprache, Erinnerungsvermögen, ein Konzept von Vergangenheit und Zukunft, die Fähigkeit, Selbst und Nicht– Selbst zu unterscheiden und mit anderen zu interagieren, kurzum, all das, was menschliche Persönlichkeiten mit ihren Fähigkeiten und Eigenarten definiert. Ja, es handelt sich zweifelsohne um Hirnleistungen, die nicht von der Handvoll Nervenzellen der Seescheidenlarve erbracht werden können, für die vielmehr die Milliarden Nervenzellen des menschlichen Gehirns mit seinen Billionen Verbindungen nötig sind. Aber sie alle bauen letztlich auf unserer Fähigkeit auf, uns zu bewegen, eine Fähigkeit, die tragfähige Konzepte von Raum und Zeit erfordert. Diese Konzepte von Raum und Zeit sind das Ergebnis eines aktiven Rekonstruktionsprozesses, dessen Eigenschaften durch die Anforderungen der Lebenswelt einer Spezies bestimmt werden.
Neuron
Neuron/-/neuron
Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.
Ich möchte diesen Gedanken an den sogenannten place cells – den Ortszellen – des Hippocampus verdeutlichen, für deren Entdeckung John O’Keefe heute mit einem der Nobelpreise für Physiologie und Medizin ausgezeichnet wird. Der Hippocampus ist ein entwicklungsgeschichtlich alter Teil des Großhirns von Säugern, der sich unter anderem durch eine einfachere Schichtenstruktur von den neueren Anteilen, dem Neocortex, unterscheidet. O’Keefe und seine Mitarbeiter entdeckten die place cells in Ratten, die sich mit permanent implantierten Elektroden zur Registrierung der Aktivität hippocampaler Nervenzellen im Labor bewegen konnten. Es zeigte sich, dass sich in einem Teil des Hippocampus Nervenzellen finden ließen, die immer dann aktiv waren, wenn die Ratte auf ihren Erkundigungen einen bestimmten, für jede place cell charakteristischen Ort im Labor erreichte. Diese Nervenzellen stehen also für spezifische Orte im Raum und drücken durch ihre Aktivierung aus, dass das Tier den ihnen bekannten Ort erreicht hat. Ortszellen sind also die zelluläre Basis eines Ortsgedächtnisses. Nachdem sich verschiedene Ortszellen für unterschiedliche Orte zu interessieren und die vielen Ortszellen in ihrer Summe den gesamten Explorationsraum der Ratte abzudecken schienen, lag die Schlussfolgerung nahe, dass sie in ihrer Gesamtheit eine Art zellulärer Karte des wahrgenommenen Raumes anbieten.
Die Räume, die Ratten in Laborumgebungen explorieren, sind typischerweise eben. Es kann daher nicht überraschen, dass die auf Ortszellen basierende Raumkarte über viele Jahre hinweg als eine zweidimensionale Karte diskutiert wurde, gewissermaßen als Karte ohne Höhenangaben. Tatsächlich verfügen Ortszellen aber sehr wohl auch über Informationen über die Höhe. Sie interessieren sich nämlich genaugenommen für ein dreidimensionales Raumelement. Allerdings bilden Ortszellen von Ratten die dritte Dimension – die Höhe – im Unterschied zum Ort in der Ebene nur relativ grob ab. Könnte das damit zu tun haben, dass die dritte Dimension für Ratten und andere Bodenbewohner eine vergleichsweise geringe Rolle spielt? Dass das so sein dürfte, wird durch Experimente nahegelegt, in denen die Aktivität von Ortszellen freifliegender Fledermäuse registriert werden konnte. Es zeigte sich, dass die Nervenzellen der Fledermäuse tatsächlich klar umschriebene Orte im dreidimensionalen Raum erkennen. Außerdem ist die Präzision, mit denen die drei Koordinaten, welche die Lage eines Elementes im Raum festlegen, bei Fledermäusen – anders als bei Nagern – völlig identisch. Der Vergleich dieser zwei so unterschiedlichen Tiergruppen zeigt, dass die Raumkarte im Hippocampus nicht etwa ein schlichtes Abbild des physikalischen Raumes ist, sondern vielmehr eine Repräsentation darstellt, die den Mobilitätsanforderungen und den Mobilitätsmöglichkeiten des Tieres Rechnung trägt.
Was wäre, wenn unsere Ratten fliegen lernten? Würden dann die Ortszellen des Hippocampus dieser „Flugratten“ die bei Fledermäusen gefundene präzise Abbildung der dritten Dimension zeigen? Das ist natürlich nichts anderes als die Frage danach, ob die Eigenschaften der Ortszellen und der vielen anderen, hier nicht im Einzelnen angesprochen zellulären Elemente des Ortsgedächtnisses angeborene Manifestationen eines für die Tierart spezifischen genetischen Programmes sind. Oder entwickeln sie sich als Antwort auf die Entfaltung des notwendigen Bewegungsrepertoires? Nun dürfte es einfacher sein, Fledermäusen das Fliegen zu verwehren, als umgekehrt Ratten das selbständige Fliegen zu ermöglichen, wollte man klären, welche Konsequenzen eine weitgehende Veränderung des Mobilitätsrepertoires hat. Aber auch das vermeintlich einfachere Experiment steht leider bislang aus.
Die verfügbaren Entwicklungsstudien scheinen in der Summe dafür zu sprechen, dass das Ortsgedächtnis das Ergebnis eines angeborenen Entwicklungsprogramms sein dürfte, das durch Erfahrung verbessert wird. Aber wie die Gewichte des genetischen Programms und der Erfahrung verteilt sind, ist unklar, und damit muss auch offenbleiben, ob Ortszellen von Ratten, die das Fliegen erlernen sollten, wohl fledermaustypische Eigenschaften entwickeln würden.
Ortszellen
Ortszellen/-/place cells
Pyramidenzellen des Hippocampus, die eine bestimmte Stelle in einer bestimmten Umgebung – zum Beispiel einen Abschnitts eines Labyrinths – codieren. Befindet sich ein Versuchstier im Zentrum dieses Bereichs, feuert die Zelle am stärksten. Ortszellen wurden 1971 von John O´Keefe und Jonathon Dostrovsky entdeckt.
Hippocampus
Hippocampus/Hippocampus/hippocampual formatio
Der Hippocampus ist der größte Teil des Archicortex und ein Areal im Temporallappen. Er ist zudem ein wichtiger Teil des limbischen Systems. Funktional ist er an Gedächtnisprozessen, aber auch an räumlicher Orientierung beteiligt. Er umfasst das Subiculum, den Gyrus dentatus und das Ammonshorn mit seinen vier Feldern CA1-CA4.
Veränderungen in der Struktur des Hippocampus durch Stress werden mit Schmerzchronifizierung in Zusammenhang gebracht. Der Hippocampus spielt auch eine wichtige Rolle bei der Verstärkung von Schmerz durch Angst.
Neuron
Neuron/-/neuron
Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.
Nun stehen Ereignisse, die erinnert werden sollen, in einer präzisen zeitlichen Beziehung zueinander. Tatsächlich finden sich im Hippocampus von Ratten nicht nur die erwähnten Ortszellen, sondern auch sogenannte time cells, Nervenzellen die mit ihrer Entladung distinkte Momente in einer zeitlichen Abfolge von Ereignissen markieren und so zur Rekonstruktion der zeitlichen Abfolge von Ereignissen beim Erinnern einer Episode beitragen könnten. Es ist vielleicht die spannendste Aufgabe der aktuellen Hippocampusforschung, zwischen den doch sehr unterschiedlichen Sichtweisen auf den Hippocampus – der Hippocampus als Basis des Ortsgedächtnisses oder aber des deklarativen Gedächtnisses – zu entscheiden oder sie miteinander zu versöhnen.
Einen Versuch der Versöhnung stellt das Konzept des generalisierten Erinnerungsraumes von Eichenbaum und anderen dar. Dieses Konzept geht davon aus, dass Objekte, Orte, Ereignisse und Fakten in dem raumzeitlichen Zusammenhang, in dem sie ursprünglich erlebt werden, abgespeichert werden und im Prozess des sich Erinnerns als Ganzes wieder abgerufen werden. In diesem Konzept wäre das Erinnern einer Route durch den Raum nichts anderes als der Spezialfall einer Abbildung einer Abfolge von Orten in der Zeit. Und es ist im Allgemeinen unsere Mobilität, die die zeitliche Abfolge definiert: Wir erreichen bestimmte Orte und die mit ihnen verbundenen Ereignisse früher als andere, weil sie auf unserem Weg näher liegen. Es ist diese zeitliche Abfolge, die kausale Beziehungen zwischen Ereignissen und Fakten ermöglicht. Also Zeit und Raum als Konstrukte des Gedächtnisses, die Bezüge zwischen Fakten und Ereignissen ermöglichen – eine Sichtweise, die in frappierender Weise an ganz ähnliche Gedanken von Gottfried Wilhelm Leibniz erinnert, zweihundert Jahre vor Beginn der modernen Hippocampusforschung gedacht.
Aber wo in unserem Gehirn werden diese Konstrukte auf Dauer abgespeichert? Nicht im Hippocampus. Dazu wäre seine Kapazität viel zu gering. Die Langzeitspeicherung erfolgt vielmehr in der entwicklungsgeschichtlichen jüngeren Großhirnrinde, dem Neocortex. Nur sie bietet die riesige Speicherkapazität, die für die Erinnerungen eines langen Lebens benötigt wird, und nur sie bietet eine Basis für die Erstellung neuer, noch komplexerer Bezüge zwischen verschiedenen Inhalten. Der Hippocampus wird gebraucht, um die Überführung von neuen Gedächtnisinhalten in diesen Langzeitspeicher zu orchestrieren. Dass die Etablierung eines langfristig verfügbaren deklarativen Gedächtnisses in der Großhirnrinde in der Tat des Hippocampus bedarf sowie der mit ihm verbundenen Nachbarschaftsstrukturen, belegt der Fall des 2008 verstorbenen Patienten Henry G. Molaison („H.M.“). Er hatte sich 1953 wegen einer schweren Epilepsie beidseitigen chirurgischen Entfernungen der Schläfenlappen seines Großhirns unterziehen müssen. Mit den Schläfenlappen verlor er auch wesentliche Teile seiner Hippocampusformation. H.M. blieb seit dem Eingriff für die weiteren 53 Jahre seines Lebens unfähig, neue Erinnerungen an Fakten, Geschehnisse und persönlichen Erfahrungen zu speichern und abzurufen.
H.M. musste ein Leben führen, in dem er zwar auf Erinnerungen an seine jungen Jahre vor dem Eingriff zurückgreifen konnte, aber völlig unfähig blieb, Erfahrungen, Eindrücke und Fakten nach dem Eingriff zu sammeln und abzuspeichern. Und weil die Entwicklung von Vorstellungen über die Zukunft auf Erfahrungen in der Vergangenheit basiert, war H.M. unfähig, eine tragfähige Vorstellung von seinem Leben in der Zukunft und Voraussagen über künftige Ereignisse zu machen. Mit anderen Worten, eine erhebliche Einschränkung der Fähigkeit, sich mental in der Zeit zu bewegen.
Viele der an H.M. über mehr als fünfzig Jahre hinweg gemachten Beobachtungen komplizieren das bis hierher skizzierte Bild der Rolle des Hippocampus und seiner Interaktionen mit anderen Teilen des Gehirns. Eine sei mit Blick auf unseren Ausgangspunkt, die Entdeckung der Ortszellen und ihre Bedeutung für das Raumgedächtnis, erwähnt. H.M. war fünf Jahre nach seiner Operation in ein neues Haus eingezogen. Er war dort bald nicht nur in der Lage, sich sicher in seiner neuen Umgebung zu orientieren. Zur großen Überraschung seiner Untersucher vermochte er, dem die größten Teile des Hippocampus fehlten und der vermutlich ohne ein Ortszellensystem lebte, auch einen verständlichen Grundriss seiner Wohnung zu zeichnen – eine offensichtliche Manifestation eines Ortsgedächtnisses. Wie war das möglich? Eine denkbare Antwort bietet die Beobachtung, dass er, im Unterschied zu Gesunden, unfähig war, Pläné ihm weniger gut vertrauter Räume und Wohnungen zu zeichnen. Es dürfte also die ständige Wiederholung der Bewegung und Orientierung im eigenen Haus gewesen sein, die es erhaltenen Teilen des Gehirns ermöglichte, in kruder, wenig effizienter Weise eine Topographie eines sehr speziellen Teiles des Außenraumes verfügbar zu machen. Zu dieser Ersatzleistung dürften unter anderem die bei H. M. intakten Anteile der Großhirnrinde im Scheitellappen beigetragen haben, die in vielfältiger Weise zur räumlichen Orientierung beitragen.
Der vielleicht eindrücklichste Beleg für die große Bedeutung dieser Teile des Gehirns für Raumwahrnehmung und räumliche Orientierung ist das Bild des „Hemineglectes“, das nach rechtsseitigen Scheitellappenläsionen beobachtet wird. Für die betroffenen Patienten scheint die Welt auf der linken Seite nicht zu existieren. Der Raum, den sie wahrnehmen, der Raum, den sie explorieren und den sie erinnern, ist auf die rechtsseitigen Anteile relativ zu ihrem Körper geschrumpft. Dass es sich hier um eine dramatische Verzerrung eines subjektiven Raumkonstrukts handelt, belegt die Abhängigkeit der Wahrnehmung von der Perspektive des erinnerten Raumes. Erstmals wurde dies in einer klassischen Studie an Mailänder Patienten demonstriert.
Die Patienten wurden gebeten, sich in ihrer Vorstellung auf den ihnen vertrauten Mailänder Domplatz zu begeben und vom Domportal in Richtung des Reiterstandbildes von Vittorio Emanuele zu schauen. Sie konnten dann problemlos die Sehenswürdigkeiten zu ihrer Rechten benennen, etwa den Corso Vittorio Emanuele, nicht aber die Museen zu ihrer Linken. Stellten sie sich aber in ihrer Vorstellung vor das Reiterstandbild von Vittorio Emanuele und schauten zum Domportal, dann waren die Museen plötzlich gegenwärtig, aber nicht mehr länger der Corso und die benachbarten Gebäude.
Rechtsseitige Scheitellappenläsionen führen in vielen Fällen auch zu einer Unfähigkeit, sich Anzahlen vorzustellen und zu entscheiden, ob eine Zahl größer, kleiner oder gleich einer anderen ist. Diese sogenannte Akalkulie ist Folge der Tatsache, dass wir – und vermutlich die meisten Tiere – uns Anzahlen anhand ihrer räumlichen Längenäquivalente vorstellen. Der nichtsprachliche Zahlensinn ist also keineswegs eine eigenständige Leistung unseres Geistes, sondern vielmehr ein Beiprodukt der Fähigkeit, den Raum zu denken. Die Grundlage dieser Fähigkeit sind in Experimenten an Affen nachgewiesene Nervenzellen, die gleichermaßen auf Anzahlen und deren bildliche Längenäquivalente ansprechen.
Wie der Zahlensinn, so ist auch unsere Wahrnehmung der Zeit untrennbar mit unserem Bild des Raumes verknüpft. Und wie unsere Vorstellung vom Raum, so wird auch die Vorstellung von der Zeit entscheidend von den Anforderungen unserer Handlungen bestimmt. Wir werden uns unseres Entschlusses, eine Handlung auszuführen, erst zu einem Zeitpunkt bewusst, der viele hundert Millisekunden nach dem Beginn der Hirnaktivität liegt, die die angestrebte Bewegung ermöglicht – ein Befund, der von vielen als Angriff auf das Konzept des freien Willens missverstanden worden ist. Tatsächlich dürfte er Ausdruck des Versuchs unseres Gehirns sein, die Wahrnehmung unserer Handlung und ihrer Konsequenzen zusammenzurücken und damit die Wahrnehmung eines kausalen Zusammenhangs zu stärken. Wir nehmen nämlich nicht nur den Beginn unserer Handlung später, sondern auch deren Konsequenzen früher wahr. Dieses zeitliche Zusammenrücken von Ursache und Wirkung ist wiederum eine aktive Konstruktion unseres Gehirns.
Wie sehr unsere Wahrnehmung von Raum und Zeit den Notwendigkeiten von Handlungen und Bewegungen Rechnung trägt, zeigt auch das Beispiel schneller Augenbewegungen, mit denen wir unsere Augen – gewissermaßen zwei kleine Kameras – von einem uns interessierenden Objekt im Außenraum auf ein anderes bewegen. Während einer solchen schnellen Augenbewegung sind wir – vermutlich um die Wahrnehmung von Bildbewegung und –verschmierung infolge der Augenbewegung zu vermeiden – faktisch blind.
Dass Fotos, die entstehen, wenn die Kamera während des Auslösens bewegt wird, meist ziemlich nutzlos sind, ist jedem Fotoamateur bestens vertraut. Der Erblindung während unserer Augenbewegung sind wir uns, wie ein einfacher Selbstversuch zeigt, nicht bewusst: Schaut man im Spiegel auf seine eigenen Augen und lässt man seine Augen zwischen dem linken und dem rechten Auge im Spiegelbild hin– und herspringen, dann sieht man unbewegliche Augen, aber keine Blicksprünge. Die Blicksprünge werden ausgeblendet, und unsere Wahrnehmung der Dauer der Blicksprünge ist erheblich komprimiert – Ausdruck des Versuches unseres Gehirns, die subjektive Bedeutung dieses Zeitsegmentes zu reduzieren. Mit dem Blicksprung ist aber nicht nur eine Kompression der subjektiven Zeit, sondern auch eine Schrumpfung des gesehenen Raumes verbunden, die unmittelbar vor dem Blicksprung einsetzt und als Vorbereitung des Sehens auf die erwarteten Eindrücke nach dem Blicksprung verstanden werden kann.
Wir wissen übrigens aus neurophysiologischen Experimenten an trainierten Affen, dass die Grundlage der Kompression von Raum und Zeit (vorübergehende) Veränderungen von Nervenzellen in den Augenfeldern der Großhirnrinde sind. Diese werden durch die Augenbewegungskommandos herbeigeführt. Diskutiert wird, ob diese Kompression der Wahrnehmung von Raum und Zeit während einer schnellen Augenbewegung möglicherweise die Stabilität und die Kohärenz des Seheindrucks gewährleistet.
Raum und Zeit sind also im eigentlichen Sinne Hirngespinste – Gespinste, die es uns erlauben, der Vielgestaltigkeit der Ansichten der Welt, die Folge unserer Fähigkeit, verschiedenste Perspektiven einzunehmen, uns zu nähern oder uns zu entfernen, gerecht zu werden und die Auswirkungen unserer Handlungen in einer für unser Überleben zweckmäßigen Weise zu interpretieren.
Wenn heute John O’Keefe und das Ehepaar Moser die Nobelpreise für Physiologie oder Medizin bekommen, dann werden damit zunächst einmal ihre unbestreitbaren individuellen Beiträge zum Verständnis dieser Hirngespinste gewürdigt: John O’Keefe für die Entdeckung der Ortszellen im Hippocampus und das Ehepaar Moser für die Entdeckung der grid cells, der Gitterzellen, die sich in der Nachbarschaft des Hippocampus finden und eine Art Koordinatensystem für Ortsinformationen anbieten. O’Keefe und die Mosers stehen stellvertretend für viele andere, die die Neurobiologie von Raum und Zeit entwickelt haben. Nun genügen aufregende Einblicke in die Architektur des menschlichen Geistes vielen nicht, und es muss ein praktischer Nutzen bemüht werden. So konnte man gelegentlich hören, dass die mit dem Nobelpreis gewürdigten Arbeiten die Entwicklung von Therapien der Alzheimerschen Erkrankung befördern würden. Das scheint auf den ersten Blick an den Haaren herbeigezogen zu sein. Bei näherer Betrachtung könnte einem dann aber vielleicht der Gedanke kommen, dass die derzeit wirksamste verfügbare Maßnahme in der Behandlung der Alzheimerschen Erkrankung die Förderung von Bewegung und körperlicher Aktivität ist.
Dass Sport diese Erkrankung, die den Geist zerstört, wenn nicht heilt, so doch bremsen und lindern kann, ist vielleicht weniger unverständlich, wenn man die zuvor skizzierten engen Beziehungen zwischen Bewegen, Wahrnehmen und Erinnern bedenkt und daher mit Recht vermuten darf, dass das Training des Körpers notwendigerweise auch den Geist trainiert. Sport ist eben keineswegs „hirnlos“. Es sind Seescheiden, diese unscheinbaren Organismen, an die wohl kaum ein Alzheimer-Forscher denken dürfte, die uns lehren, dass es die Bewegung ist, die den Geist erfordert.
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Ortszellen
Ortszellen/-/place cells
Pyramidenzellen des Hippocampus, die eine bestimmte Stelle in einer bestimmten Umgebung – zum Beispiel einen Abschnitts eines Labyrinths – codieren. Befindet sich ein Versuchstier im Zentrum dieses Bereichs, feuert die Zelle am stärksten. Ortszellen wurden 1971 von John O´Keefe und Jonathon Dostrovsky entdeckt.
Hippocampus
Hippocampus/Hippocampus/hippocampual formatio
Der Hippocampus ist der größte Teil des Archicortex und ein Areal im Temporallappen. Er ist zudem ein wichtiger Teil des limbischen Systems. Funktional ist er an Gedächtnisprozessen, aber auch an räumlicher Orientierung beteiligt. Er umfasst das Subiculum, den Gyrus dentatus und das Ammonshorn mit seinen vier Feldern CA1-CA4.
Veränderungen in der Struktur des Hippocampus durch Stress werden mit Schmerzchronifizierung in Zusammenhang gebracht. Der Hippocampus spielt auch eine wichtige Rolle bei der Verstärkung von Schmerz durch Angst.
Gedächtnis
Gedächtnis/-/memory
Gedächtnis ist ein Oberbegriff für alle Arten von Informationsspeicherung im Organismus. Dazu gehören neben dem reinen Behalten auch die Aufnahme der Information, deren Ordnung und der Abruf.
Läsion
Läsion/-/lesion
Eine Läsion ist eine Schädigung organischen Gewebes durch Verletzung.
Neuron
Neuron/-/neuron
Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.
Neocortex
Neocortex/-/neocortex
Der Neocortex ist der stammesgeschichtlich jüngste Teil der Großhirnrinde. Da er relativ gleichförmig in sechs Schichten aufgebaut ist, spricht man auch vom Isocortex.
Temporallappen
Temporallappen/Lobus temporalis/temporal lobe
Der Temporallappen ist einer der vier großen Lappen des Großhirns. Auf Höhe der Ohren gelegen erfüllt er zahlreiche Aufgaben – zum Temporallappen gehören der auditive Cortex genauso wie der Hippocampus und das Wernicke-Sprachzentrum.
Parietallappen
Parietallappen/Lobus parietalis/parietal lobe
Wird auch Scheitellappen genannt und ist einer der vier großen Lappen der Großhirnrinde. Er liegt hinter dem Frontal– und oberhalb des Occipitallappens. In seinem vorderen Bereich finden somatosensorische Prozesse statt, im hinteren werden sensorische Informationen integriert, wodurch eine Handhabung von Objekten und die Orientierung im Raum ermöglicht werden.
Wahrnehmung
Wahrnehmung/Perceptio/perception
Der Begriff beschreibt den komplexen Prozess der Informationsgewinnung und –verarbeitung von Reizen aus der Umwelt sowie von inneren Zuständen eines Lebewesens. Das Gehirn kombiniert die Informationen, die teils bewusst und teils unbewusst wahrgenommen werden, zu einem subjektiv sinnvollen Gesamteindruck. Wenn die Daten, die es von den Sinnesorganen erhält, hierfür nicht ausreichen, ergänzt es diese mit Erfahrungswerten. Dies kann zu Fehlinterpretationen führen und erklärt, warum wir optischen Täuschungen erliegen oder auf Zaubertricks hereinfallen.
Auge
Augapfel/Bulbus oculi/eye bulb
Das Auge ist das Sinnesorgan zur Wahrnehmung von Lichtreizen – von elektromagnetischer Strahlung eines bestimmten Frequenzbereiches. Das für den Menschen sichtbare Licht liegt im Bereich zwischen 380 und 780 Nanometer.
Auge
Augapfel/Bulbus oculi/eye bulb
Das Auge ist das Sinnesorgan zur Wahrnehmung von Lichtreizen – von elektromagnetischer Strahlung eines bestimmten Frequenzbereiches. Das für den Menschen sichtbare Licht liegt im Bereich zwischen 380 und 780 Nanometer.
Dieser Artikel erschien erstmals am 10.12.2014 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als Teil der Vortragsreihe „Hirnforschung, was kannst du? — Potenziale und Grenzen“ von Gemeinnütziger Hertie-Stiftung und FAZ.
Hier finden Sie das Video zum Vortrag Wie die Welt im Kopf entsteht.