Die Tricks der Gedächtniskünstler
Tausend Ziffern in dreißig Minuten lernen oder 750 Großstädte auf Satellitenfotos erkennen: Gedächtniskünstler leisten Verblüffendes. Dahinter steckt keine besondere Begabung, sondern die Anwendung von Merktechniken, die jeder lernen kann.
Wissenschaftliche Betreuung: Prof. Dr. Axel Mecklinger
Veröffentlicht: 22.07.2011
Niveau: mittel
- Gedächtnissportler können dank einfacher Merktechniken schnell und präzise trockene Fakten wie Ziffern- oder Spielkartenfolgen auswendig lernen.
- Die so genannten Mnemotechniken nutzen aus, dass sich das Gehirn Bilder besser merken kann als Zahlen oder Fakten.
- Eine tiefer gehende Wissensaneignung erfolgt allerdings nur durch die Anwendung des Gelernten.
- Grundlage für das Merken mittels der Loci-Technik ist es, die Inhalte in Bilder zu übertragen, die man im Geist nacheinander einer Wegroute zuordnet. Dabei verwenden die meisten Gedächtnissportler individuell angepasste Systeme, die jedoch ähnliche Grundlagen haben. Um beispielsweise eine Ziffernfolge zu lernen, ist der einfachste Ansatz, jede Ziffer einzeln durch ein Bild darzustellen – am besten eines, das der Ziffer ähnlich sieht: ein Ball für 0, ein Stift für 1, ein Schwan für 2. Um sich lange Ziffernfolgen zu merken, braucht man auf diese Weise jedoch viele Bilder, also eine lange Route mit vielen Wegpunkten, um die Bilder abzulegen.
- Ökonomischer ist ein System, wie es der mehrmalige Deutsche Meister Gunther Karsten nutzt. Er ordnet den Ziffern Konsonanten zu: der 0 das „z“ wie zero, der 1 wegen des ähnlichen Aussehens das „t“, der 2 das „n“ und der 3 das „m“. Füllt man nun die Konsonanten mit Vokalen auf, können aus Ziffernfolgen Worte werden. Auf dieser Basis kann man sich für alle zweistelligen Ziffernfolgen von 00 bis 99 bildhafte Begriffe zurechtlegen. Karsten schlägt etwa für 11 den Begriff „tot“ vor, gedacht als Skelett, für 12 „Tanne“ und für 23 „Kapitän Nemo“. Aus der Zahl 112312 wird so die Bildfolge Skelett – Nemo – Tanne.
- Führt die Merk-Route durch die eigene Küche vom Vorratsschrank über den Kühlschrank zur Kochplatte, kann das dann so aussehen: Beim Öffnen des Vorratsschranks entdeckt man, wie ein gefräßiges Skelett die Schokoladen-Vorräte vernichtet, im Kühlschrank entert der bärtige Kapitän Nemo vom Obst- zum Eisfach auf, und durch einen Riss in der Kochplatte sprießt ein Tannenbaum – je übertriebener, schriller und merkwürdiger die Bilder im Kopf, desto besser bleiben sie haften.
Nur einmal scheint sein Gedächtnis den Wettkandidaten im Stich zu lassen. Während Millionen Zuschauer ratlos auf weiße und grüné Farbflächen starren und Thomas Gottschalk im Hintergrund einen Kalauer erzählt, huscht ein Runzeln über die hohe Stirn des vorher so lässigen jungen Mannes. Diesmal ist sich Florian Kreutz nicht ganz sicher, welche Stadt das Satellitenfoto zeigt. Indien, ja – aber ist es nun Allahabad oder Ahmedabad? Als fühle er sich ertappt, suchen seine Fingerspitzen das verlegene Lächeln zu verbergen.
„Wetten, dass…?“ er anhand von Satellitenfotos alle 750 Städte der Welt mit über 500.000 Einwohnern identifizieren kann: Dieser Herausforderung hat sich der 38-Jährige im März 2011 gestellt. Fünf Städte wurden zufällig ausgewählt, nur einmal darf er sich irren. Nach einigem Zögern entscheidet sich Florian Kreutz für Ahmedabad – und liegt richtig. Den Rest bewältigt er souverän. Er wird Wettkönig und erobert die Herzen der Fernsehnation.
Aber das Gedächtnis des Webentwicklers taugt nicht nur für Millionenstädte und Millionenpublikum. Muss er vor einer Runde ihm unbekannter Menschen einen Vortrag halten, tut er das nicht nur ohne Stichwortzettel, wie er erzählt. Weil es Wertschätzung ausdrücke, sich Namen zu merken, überrasche er die Zuhörer gern mit einer Vorstellungsrunde nach dem Motto: „Sagen Sie mir Ihre Durchwahl – ich sage Ihnen, wie Sie heißen!“
Was steckt hinter solchen Gedächtnisleistungen? „Begabung ist es nicht, sondern die Herangehensweise“, sagt Kreutz. Und die hat er gründlich trainiert: Der Wettkönig hat sich in seiner Freizeit dem Gedächtnissport verschrieben.
Gedächtnis
Gedächtnis/-/memory
Gedächtnis ist ein Oberbegriff für alle Arten von Informationsspeicherung im Organismus. Dazu gehören neben dem reinen Behalten auch die Aufnahme der Information, deren Ordnung und der Abruf.
Spielkartensprint und Zahlenmarathon
Dass der weit mehr ist als nur ein interessanter Zeitvertreib, zeigen Veranstaltungen wie die in Guangzhou, China, Dezember 2010. Etwa einhundert Menschen, darunter auch Florian Kreutz, sitzen in einem schmucklosen Seminarraum. Die Tische sind auseinandergezogen, auf jedem liegt ein Blatt Papier. „Auf die Plätze, fertig, los!“ Alle Anwesenden drehen den Zettel um und vertiefen sich in die dort abgedruckte Aufgabe. Konzentrierte Stille, rauchende Köpfe. Bis auf die gemischte Altersstruktur gleicht die Situation einer Klausur in Schule oder Uni. Tatsächlich findet hier jedoch die 19. Gedächtnis-Weltmeisterschaft statt.
Drei Tage lang misst sich die Elite der Gedächtniskünstler in zehn Disziplinen. Dazu zählen etwa der „Spielkartensprint“ – Weltrekord: knapp 22 Sekunden Merkzeit für 52 Karten –, das Auswendiglernen fiktiver Geschichtsdaten oder der „Zahlenmarathon“, bei dem sich die Besten in dreißig Minuten weit über 1.000 Ziffern einprägen.
Aus Zuschauersicht unterscheiden sich die Disziplinen freilich bloß in der Bearbeitungszeit. „Das ist wenig fernsehtauglich“, sagt Kreutz, der in China im Mittelfeld der Gedächtnis-Athleten landete. Nach der Weltmeisterschaft widmete er sich deshalb den Satellitenfotos. Um die Städte zu lernen, habe er keine 50 Stunden aufgewendet, erzählt er. Ansonsten sei sein Zeitaufwand für Gedächtnistraining mit dem Zähneputzen zu vergleichen.
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Merktechniken für jedermann
Möglich werden die schwindelerregenden Leistungen der Gedächtnissportler durch spezielle Merk– oder Mnemotechniken. Da sich das Gehirn Bilder wesentlich besser merken kann als abstrakte Begriffe oder Zahlen, wird beispielsweise eine Ziffernfolge zum Einprägen in Bilder übersetzt. Dann kommt meist die „Loci-Methode“ – von lateinisch locus, der Ort – zum Einsatz (siehe Info-Box). Sie wurde schon von Rednern in der Antike genutzt: Man verknüpft jedes Bild mit einem Ort entlang einer gut eingeprägten Wegstrecke. Später muss man den Weg in Gedanken nur noch einmal ablaufen, um sich Bild für Bild zu erinnern; mittels Rückübersetzung der Bilder in Ziffern kommt man zur gewünschten Ziffernfolge.
Gedächtnissportler wie Florian Kreutz werden nicht müde zu betonen, dass diese Techniken jeder lernen kann. Er selbst hat sie sich, wie viele Gleichgesinnte, autodidaktisch angeeignet. Es gibt aber auch Seminare. Einer, der solche Schulungen veranstaltet, ist Johannes Mallow, der amtierende Deutsche Gedächtnismeister. Im Hauptberuf ist der 1981 geborene Diplom-Ingenieur mit seiner Doktorarbeit beschäftigt, nebenbei beansprucht sein eigenes Training Zeit: Ein bis zwei Stunden pro Tag habe er in den Monaten vor der Weltmeisterschaft investiert, erzählt Mallow. In China holte er den zweiten Platz.
Mallows Weg zum Gedächtnissport ist in vieler Hinsicht typisch: Am Anfang, 2003 war das, stand eine Fernsehshow. Ein Gedächtniskünstler instruierte Verona Pooth, die damals noch Feldbusch hieß, und brachte sie dazu, sich in kürzester Zeit eine 20-stellige Zahl fehlerfrei einzuprägen. Das beeindruckte Mallow. Er fand Infos über Merktechniken und ein Programm zum Trainieren im Internet, lernte schnell – und wurde vom sportlichen Ehrgeiz gepackt: „Nachdem ich immer besser wurde, wollte ich mich auch einmal mit anderen messen.“
Mit Eselsbrücken zu mehr Kreativität
Mallow gibt Seminare, Kreutz dachte sich eine fernsehtaugliche Wette aus: Erfolgreiche Gedächtniskünstler sehen sich oft als Botschafter ihrer Disziplin. Aber was ist der Reiz daran, zufällige Karten– oder Zahlenfolgen zu memorieren, selbst wenn sie währenddessen im Kopf zu fantasievollen Bildergeschichten mutieren? „Das Gehirn übt, Abstraktes in Bilder zu übersetzen und umgekehrt“, sagt Florian Kreutz. Das beanspruche die Fantasie und trainiere entsprechend die Synapsen: „Dadurch bekommt das Gehirn auch sonst mehr Möglichkeiten, abzubiegen – man wird kreativer!“
Dem stimmt auch Katharina Turecek zu. Die Österreicherin, die als Gedächtnistrainerin arbeitet und Bücher wie „Die 99 besten Lerntipps“ veröffentlich hat, warnt aber gleichzeitig davor, in den Merktechniken ein Zaubermittel zu sehen. „Diese Techniken sind wahnsinnig effektiv – aber Auswendiglernen ist nicht alles.“ Zwar könne man damit den durchschnittlichen Schultest bestehen, aber echtes Verständnis ersetze das nicht, warnt die Medizinerin und Kognitionswissenschaftlerin.
Um Wissen vom Arbeits– ins Langzeitgedächtnis zu transferieren, muss es in ein bestehendes Wissensnetz integriert werden. Mnemotechniken können dafür zwar ein erster Schritt sein, sagt Turecek. Letztlich sei es aber wie bei einfachen Eselsbrücken: Ziel müsse sein, mit dem so erworbenen Wissen auch etwas zu tun, andernfalls gehe mit der Erinnerung an die Eselsbrücke auch das Gelernte irgendwann wieder verloren: „Mit Merktechniken gelernte Vokabeln werde ich genauso vergessen wie anders gelernte, wenn ich sie nicht anwende.“
Synapse
Synapse/-/synapse
Eine Synapse ist eine Verbindung zwischen zwei Neuronen und dient deren Kommunikation. Sie besteht aus einem präsynaptischen Bereich – dem Endknöpfchen des Senderneurons – und einem postsynaptischen Bereich – dem Bereich des Empfängerneurons mit seinen Rezeptoren. Dazwischen liegt der sogenannte synaptische Spalt.
Langzeitgedächtnis
Langzeitgedächtnis/-/long-term memory
Ein relativ stabiles Gedächtnis über Ereignisse, die in der etwas entfernteren Vergangenheit passiert sind. Im Langzeitgedächtnis werden Inhalte zeitlich nahezu unbegrenzt gespeichert. Unterschiedliche Gedächtnisinhalte liegen in unterschiedlichen Gehirn-Arealen. Die zelluläre Grundlage für diese Lernprozesse beruht auf einer verbesserten Kommunikation zwischen zwei Zellen und wird Langzeitpotentierung genannt.
zum Weiterlesen:
- Deutsche Gedächtnismeisterschaften; URL: http://www.memomasters.de/ [Stand: 2002]; zur Webseite.
- Verein zur Förderung des Gedächtnisses; URL: http://www.memoryxl.de/kontakt/impressum [Stand: 2002]; zur Webseite.
- Wetten-Dass-Wette von Florian Kreutz bei Youtube; URL: http://www.youtube.com/watch?v=rJR1Kx1yKbg [Stand: 21.03.2011]; zur Webseite.
Könnte man nicht auch Wörter,oder Ereignisse verwenden ? oder
Ich finde trotz Lerntehniken großartig, was diese Gedächtnisskünstler leisten.