Das Rätsel der Bewegung
Mit Methoden der Mathematik und Informatik versuchen Forscher in Heidelberg, einer alltäglichen Leistung des Gehirns auf die Spur zu kommen: Warum bewegen Menschen sich so, wie sie es tun – und nicht ganz anders?
Scientific support: Prof. Dr. Hansjörg Scherberger
Published: 31.08.2011
Difficulty: intermediate
- Der Zweck unserer Bewegungen ist oft vorgegeben – wir greifen nach einem Gegenstand oder laufen von A nach B. Der genaue Bewegungsverlauf ist damit nicht festgelegt.
- Bewegungen zu berechnen, die den Zweck erfüllen und gleichzeitig natürlich wirken, ist für Robotiker und Computergrafiker ein Problem. Welche Prinzipien das Gehirn dabei unbewusst verwendet, ist nicht geklärt.
- Forscher in Heidelberg und Paris arbeiten daran, diese Prinzipien per mathematischer Analyse und Modellierung herauszufinden. Am Ende könnten sogar emotionale Bewegungen, etwa wütender Gang, mathematisch greifbar und somit künstlich generierbar sein.
Die "motion capture", also Bewegungs-Erfassung genannte Forschungstechnik spielt auch in der Computer- und Filmindustrie eine wichtige Rolle. Animationsfilme wie "Polar Express" oder "Avatar" haben das Verfahren genutzt, auch moderne Computerspiele greifen darauf zurück. Denn Computer sind bisher weit davon entfernt, für virtuelle Figuren das zu vollbringen, was das menschliche motorische System andauernd tut: Vielfältigste Bewegungen berechnen, die jeder Beobachter sofort als menschlich identifiziert und oft noch als Körpersprache deuten kann. Die Filmemacher lassen die Bewegungen ihrer digitalen Protagonisten deshalb einfach von realen Schauspielern generieren – und übertragen deren Daten wieder auf die Charaktere aus dem Computer.
Optimierung ist das mathematische Standardverfahren, um bei Problemen mit vielen möglichen Lösungen eine geeignete auszuwählen. Einfaches Beispiel: Ein Reisender will zehn Städte abklappern, ohne dass die Reihenfolge vorgegeben ist. Also sind viele verschiedene Routen (= Lösungen) möglich. Um eine auszuwählen, kann man auf einen bestimmten Nutzen hin optimieren – etwa den kürzesten Weg suchen. Die Optimierungsbedingung hieße also: minimale Wegstrecke. Mathematiker bezeichnen in diesem Fall die Formel, welche die Wegstrecke ausdrückt, als „Kostenfunktion“. Gibt man diese vor, kann man die optimale Lösung berechnen – nämlich diejenige, welche die Kostenfunktion minimiert.
Die von Katja Mombaur entwickelte inverse Optimierung stellt dieses Verfahren auf den Kopf: Statt mithilfe einer gegebenen Kostenfunktion die optimale Lösung auszurechnen, kann so aus einer gegebenen Lösung die Kostenfunktion bestimmt werden. Im Beispiel könnte man also die tatsächliche Reiseroute in das inverse Optimierungsverfahren hineinstecken und ausrechnen, ob nun tatsächlich die Wegstrecke minimiert wurde, oder vielleicht doch eher die Reisezeit oder die Benutzung einer bestimmten staugefährdeten Straße – oder eine gewichtete Kombination aus verschiedenen dieser Bedingungen.
Wenn Martin Felis erforschen will, nach welchen Gesetzmäßigkeiten das Gehirn Bewegungen generiert, klebt er Laienschauspielern dutzende reflektierende Punkte auf den Körper. Dann lässt er sie in einem speziell präparierten Raum ein paar Schritte gehen, wieder und wieder. Dabei sollen sie – nur durch die Art des Gehens – mal Niedergeschlagenheit, mal Freude, mal Wut verkörpern.
„Die Punkte reflektieren Infrarotstrahlung und werden von mehreren Kameras erfasst. So können wir ihre Bewegung im Raum verfolgen“, erklärt Felis, der am Interdisziplinären Zentrum für Wissenschaftliches Rechnen der Universität Heidelberg (IWR) promoviert. Mit einigen Tricks und Kniffen wird aus den Punkt-Koordinaten ein Datensatz darüber, wie die Person im Raum unterwegs war: Welche Extremität sich wann wie schnell wohin bewegt hat, welches Gelenk dabei wie stark angewinkelt war. „Motion capture“, also Bewegungserfassung, nennt sich diese Methode (siehe Info-Box). Mit ihrer Hilfe wollen Felis und seine Kollegen den Prinzipien menschlicher Bewegung auf die Spur kommen.
Denn für die Wissenschaft ist die Bewegung unseres Körpers noch immer rätselhaft. Intuitiv kreieren wir vielfältigste Bewegungen, um im Alltag unsere Vorhaben zu verwirklichen. Wir laufen, greifen Dinge, gestikulieren. Sogar unsere Stimmung transportieren wir über Bewegung – oft unbewusst, aber dennoch deutlich sichtbar: Schließlich fällt es Anderen oft erstaunlich leicht, aus Haltung, Gang oder Gestik auf die Emotionen des Gegenübers zu schließen.
Gestik
Gestik/-/body language
Eine nonverbale Form der Kommunikation, bei der bestimmte Bewegungen Inhalte transportieren – ein Zucken der Schultern, eine abwinkende Armbewegung.
Emotionen
Emotionen/-/emotions
Unter „Emotionen“ verstehen Neurowissenschaftler psychische Prozesse, die durch äußere Reize ausgelöst werden und eine Handlungsbereitschaft zur Folge haben. Emotionen entstehen im limbischen System, einem stammesgeschichtlich alten Teil des Gehirns. Der Psychologe Paul Ekman hat sechs kulturübergreifende Basisemotionen definiert, die sich in charakteristischen Gesichtsausdrücken widerspiegeln: Freude, Ärger, Angst, Überraschung, Trauer und Ekel.
Was macht eine gute Bewegung aus?
Martin Felis und seine Kollegen versuchen, das Geheimnis der Bewegung am Computer zu entschlüsseln. Ingenieure, Physiker, Robotikspezialisten und Mathematiker forschen dabei gemeinsam. Ein Ziel der Arbeit ist die Grundlagenforschung. „Wir wollen etwas über den Menschen lernen, nämlich nach welchen Prinzipien das Gehirn Bewegungen steuert“, sagt Katja Mombaur, die Leiterin der Arbeitsgruppe und des Robotik-Labors der Universität Heidelberg. Darüber hinaus sei die Forschung aber auch hochinteressant für Anwendungen in der Computeranimation und in der Robotik.
Roboterforscher auf der ganzen Welt stehen nämlich vor einem großen Problem: Selbst einfachste Tätigkeiten, an welche die meisten Menschen keinen Gedanken verschwenden, sind für humanoide Roboter und deren Ingenieure eine Herausforderung. Soll der Automat nach einem Gegenstand greifen, um einen Tisch herum navigieren oder einige Stufen steigen, muss hierfür die beste Methode gefunden werden. Dabei zeigt sich deutlich, was der Mensch der Maschine noch alles voraus hat.
„Im Prinzip gibt es ja für jede Bewegung unendlich viele Möglichkeiten, wie sie ausgeführt werden kann“, erklärt Katja Mombaur. Selbst wenn nur die Hand aus der Hosentasche zur ausgestreckten Hand des Gegenübers bewegt werden soll, kann sie sich auf gerader oder geschwungener Linie bewegen, zudem sind Beschleunigung und Geschwindigkeit nicht vorgegeben. So sind letztlich beliebig viele Wege in Raum und Zeit konstruierbar — die Forscher sprechen von „Trajektorien“.
Der Mensch wählt unbewusst jeweils ganz bestimmte dieser möglichen Trajektorien aus. Welche das im Einzelfall sind, ermitteln die Heidelberger Forscher in Zusammenarbeit mit der Gruppe von Alain Berthoz am Collège de France in Paris mit Hilfe der Bewegungserfassung. Das jedoch ist nur ein erster Schritt.
Recommended articles
Der Mensch als Gliederpuppe
„Nur durch Nachdenken kommt man von den Messdaten nicht auf die zugrundeliegenden Prinzipien“, sagt Katja Mombaur und schaut auf das Skelett, das mitten in ihrem Büro steht. „Der menschliche Körper ist mit seinen vielen Gelenken einfach zu komplex.“ Deshalb haben die Forscher mathematische Modelle entwickelt, an denen sie die Bewegung des Menschen simulieren: Modellierung und Optimierung lautet die Devise.
„Modellierung bedeutet in unserem Fall, den menschlichen Körper so weit auf das Wesentliche zu vereinfachen, dass eine exakte mathematische Beschreibung mit vertretbarem Aufwand möglich wird“, so Mombaur. Die Modelle unterscheiden sich in den Details, je nachdem ob Rennen, Gehen oder Jojo-Spielen untersucht wird.
Martin Felis kümmert sich ums Gehen – und wie sich darin Emotionen spiegeln. Dabei denkt er sich den Menschen als eine Art Gliederpuppe: Nicht jeder Rückenwirbel und jedes Fingerglied muss beim emotionalen Gehen beachtet werden, aber Arme, Beine, Kopf, Hüft– und Schulterpartie spielen zentrale Rollen. Für jedes der im Gliederpuppen-Modell verbleibenden Gelenke kann er physikalisch-mathematische Formeln aufstellen, die Bewegungsgleichungen. Jede Lösung dieser Gleichungen entspricht einer Bewegung der Gelenke in Zeit und Raum. – Damit zum Beispiel ein Knie nach vorn geht, müssen sich das zugehörige Hüftgelenk und normalerweise gleichzeitig auch das Kniegelenk in einer bestimmten Geschwindigkeit anwinkeln.
Weil es viele mögliche Trajektorien gibt, gibt es aber auch viele unterschiedliche Lösungen der Gleichungen. Der Computer fischt darum in einem Optimierungsprozess diejenige heraus, die für einen bestimmten Nutzen am besten geeignet ist – etwa, um möglichst schnell am Ziel anzukommen, oder aber mit möglichst minimalem Krafteinsatz. Im Computer wird dann mit Hilfe der virtuellen Gliederpuppe getestet, ob die jeweiligen Formeln wirklich eine Bewegung erzeugen, die natürlich aussieht.
Emotionen
Emotionen/-/emotions
Unter „Emotionen“ verstehen Neurowissenschaftler psychische Prozesse, die durch äußere Reize ausgelöst werden und eine Handlungsbereitschaft zur Folge haben. Emotionen entstehen im limbischen System, einem stammesgeschichtlich alten Teil des Gehirns. Der Psychologe Paul Ekman hat sechs kulturübergreifende Basisemotionen definiert, die sich in charakteristischen Gesichtsausdrücken widerspiegeln: Freude, Ärger, Angst, Überraschung, Trauer und Ekel.
Emotionen
Emotionen/-/emotions
Unter „Emotionen“ verstehen Neurowissenschaftler psychische Prozesse, die durch äußere Reize ausgelöst werden und eine Handlungsbereitschaft zur Folge haben. Emotionen entstehen im limbischen System, einem stammesgeschichtlich alten Teil des Gehirns. Der Psychologe Paul Ekman hat sechs kulturübergreifende Basisemotionen definiert, die sich in charakteristischen Gesichtsausdrücken widerspiegeln: Freude, Ärger, Angst, Überraschung, Trauer und Ekel.
Die Suche nach dem richtigen Dreh
Dass das Gehirn normalerweise – völlig unbewusst – optimierte Bewegungen hervorbringt, ist eine gängige Annahme. Schließlich hat die Natur im Lauf der Evolution für viele Probleme optimale Lösungen gefunden. Bleibt aber die Frage, woraufhin das Gehirn Bewegungen optimiert. Viele Forscher vermuten, dass es versucht, den Kraftaufwand zu reduzieren – technisch gesprochen: die Drehmomente an den Gelenken zu minimieren. Und tatsächlich, eine Diplomarbeit am IWR hat gezeigt: Bringt man ein Strichmännchen so zum Rennen, dass diese Optimierungsbedingung erfüllt ist, entsteht eine natürlich wirkende Bewegung.
Gehen ist für die Optimierer allerdings eine härtere Nuss als Rennen. Martin Felis hat sein Modell für ähnlich einfache Optimierungsbedingungen einmal durchgerechnet – die Bewegungen des Strichmännchens unterschieden sich deutlich vom menschlichen Gehen. Bloße Mathematik führt hier also offenbar nicht zum Ziel.
In dieser Situation hilft es den Forschern, sich wieder auf ihre empirischen Studien zu besinnen, also auf die Probanden, die mit reflektierenden Punkten am Körper unterschiedliche Arten des Gehens vorgeführt haben. Sie haben die Daten geliefert, wie reale menschliche Trajektorien im Einzelfall aussehen – und ein spezielles mathematisches Verfahren, die inverse Optimierung (siehe Info-Box), erlaubt es den Heidelberger Forschern, aus diesen Daten auszurechnen, nach welchen Prinzipien die Bewegungen ausgeführt werden.
Auch Martin Felis wird auf diese Weise wohl noch den emotionalen Bewegungen auf die Schliche kommen. Bis es so weit ist, wird es aber noch eine Weile dauern. „Ein schönes einleuchtendes Ergebnis wäre natürlich, wenn ich herausfinden würde, dass der Eindruck von Traurigkeit durch Schlappheit hervorgerufen wird, also durch minimale Körperspannung, und dass Fröhlichkeit mit Aktivierung der Beine einhergeht, Stichwort Luftsprünge vor Freude.“ Aber bis dahin liegt noch viel Arbeit vor ihm. Denn um solche Studien durchzuführen, muss er erst einmal seine Gliederpuppe überarbeiten: So etwas wie Muskelspannung kommt in dem einfachen Modell bisher noch gar nicht vor.
Emotionen
Emotionen/-/emotions
Unter „Emotionen“ verstehen Neurowissenschaftler psychische Prozesse, die durch äußere Reize ausgelöst werden und eine Handlungsbereitschaft zur Folge haben. Emotionen entstehen im limbischen System, einem stammesgeschichtlich alten Teil des Gehirns. Der Psychologe Paul Ekman hat sechs kulturübergreifende Basisemotionen definiert, die sich in charakteristischen Gesichtsausdrücken widerspiegeln: Freude, Ärger, Angst, Überraschung, Trauer und Ekel.