Welten im Kopf
Menschen haben weder Fell, noch Klauen noch Reißzähne. Dafür können sie denken. Sie forschen und planen und verändern die Welt. Kognitionsforscher verstehen immer besser, dass Denken mehr ist als reine Kopfarbeit.
Wissenschaftliche Betreuung: Prof. Dr. Robert Gaschler
Veröffentlicht: 28.09.2015
Niveau: mittel
- Die Forscher haben „das Denken“ in zahlreiche einzelne Fähigkeiten zerlegt und fassen sie unter „Kognition“ zusammen.
- Unsere kognitiven Fähigkeiten sind ein Ergebnis der Evolution und dienen zuerst dem klugen Handeln in der Welt.
- Denken ist wahrscheinlich aus Handlungsplanungen entstanden, die nicht gleich ausgeführt wurden.
- Auch wenn wir uns bemühen: Geistesblitze können wir nicht erzwingen. Große Teile der kognitiven Vorgänge finden unbewusst statt.
Ein bekanntes psychologisches Experiment macht die Schwierigkeit anschaulich, unser Denken zu untersuchen: der Wason-Auswahl-Test, entwickelt in den sechziger Jahren vom englischen Psychologen Peter Cathcart Wason. Bei dem Versuchsaufbau werden den Probanden vier Karten präsentiert: Auf der einen Seite stehen gerade oder ungerade Zahlen, die Rückseite ist zum Beispiel entweder braun oder rot. Nun behauptet der Versuchsleiter: Ist die Zahl auf der Karte gerade, dann ist die Rückseite rot. Welche Karten müssen die Teilnehmer umdrehen, um die Behauptung zu überprüfen? Tatsächlich finden nur etwa zehn Prozent der Probanden die Lösung. In den Neunzigern wurde der Test wiederholt, diesmal im Gewand einer Denksportaufgabe aus dem sozialen Bereich: Die Zahlen waren nun 16 und 25, auf den Rückseiten der Karten eine Limo oder ein Bier abgebildet. Die Regel lautete: Wer Alkohol trinken will, muss über 18 sein. Auf einmal gelang es sehr vielen Probanden, die richtigen Karten umzudrehen. Es zeigte sich also: Dieselbe Denkaufgabe fällt uns sehr viel leichter, wenn wir sie in einem speziellen sozialen Kontext präsentiert werden.
Wir tun es den lieben langen Tag: vergleichen und unterscheiden, überlegen und abwägen, organisieren und planen. Wir denken in die Zukunft, schwelgen in Erinnerungen, träumen vom Möglichen und Unmöglichen. Es gibt keine andere Fähigkeit, auf die der Mensch so stolz wäre wie sein Denken. Was unterscheidet ihn vom Tier, wenn nicht die Reichweite seines Denkens? Und was sonst liegt seiner enormen Fähigkeit zugrunde, die Welt zu verändern und sich in ihr zu behaupten?
Auch als Forschungsgegenstand steht das Denken von alters her im Mittelpunkt – und macht dort ebenso lange Schwierigkeiten: Denn im Denken, so scheint es, rühren wir an eine andere Welt, eine Welt, die ihren eigenen Gesetzen gehorcht. Für Platon war deshalb klar: Es gibt eine eigenständige Welt der Ideen, zu der der Mensch mit seinen Gedanken nur einen unvollkommenen Zugang hat. Und zwar, weil sein Geist in seinem Körper gefangen ist und dieser ihm sozusagen die Aussicht vernebelt. Im 20.Jahrhundert vertrat der deutsch-britische Philosoph Karl Popper die Ansicht, es gebe eine eigene Welt des Geistes.
Die moderne Kognitionsforschung hat sich dem Unternehmen verschrieben, diese Geisteswelt auf die Erde zurückzuholen. Sie betrachtet das Denken als ein Produkt der Evolution, das nicht dazu da ist, ewige Wahrheiten zu erkennen, sondern dem Organismus beim Überleben zu helfen – etwa, indem es uns motiviert, morgens aufzustehen, zu essen, zur Arbeit zu gehen Triebfedern des Tuns. Doch es bleibt komplex: Wo beginnt das Denken, wo hört es auf? Warum können wir manche logische Probleme nur sehr schlecht lösen, wenn sie uns abstrakt präsentiert werden, und deutlich besser, wenn sie im Gewand einer sozialen Regel auftreten? (Siehe Infokasten) „Wir können das Denken nur verstehen, wenn wir es in engem Zusammenhang mit dem Handeln betrachten“, sagt der Neurobiopsychologe Peter König.
Der Computer, dein Freund und Helfer
Am Beginn dieses neuen Ansatzes stand der Computer. Heute erscheint es paradox, wird doch ständig betont, der menschliche Geist funktioniere zu großen Teilen gerade nicht wie die Rechenmaschine. Doch als Mitte des vorigen Jahrhunderts der Behaviorismus alle Rede von den Vorgängen zwischen Reiz und Reaktion als unwissenschaftlich abtat, machte der Computer den Geist in der Wissenschaft erst wieder gesellschaftsfähig. Alan Turing konnte zeigen, dass seine „Turingmaschine“ alle hinreichenden Kriterien für Intelligenz erfüllt. Und wenn man in Bezug auf Maschinen von Zielen, Absichten und Intelligenz sprechen konnte, ohne unwissenschaftlich zu sein, sollte das doch wohl auch für Menschen gelten. In der Folge arbeitete sich die Kognitionsforschung am Computer und später am Roboter ab.
Ihr Problem: Dem Computer rechnen und Schachspielen beizubringen, war nicht so schwierig. Aber von dort führte kein Weg zu einer Maschine mit menschenähnlicher, das heißt allgemeiner, sich auf viele Bereiche erstreckender Intelligenz Der Mensch, ein Schlaumeier. Die Computermethaper ist weiterhin relevant, es ist inzwischen aber klar: Eins zu eins kann man Kognition und Computer nicht vergleichen.
Im Laufe der Zeit erfuhr die Vorstellung vom Denken so radikale Veränderungen: Vom geistigen Tun im Kopf des Individuums, für das emblematisch Rodins „Denker“ steht – einsam grübelnd, den Kopf schwer in die Hand gestützt –, hin zu einem Prozess, in dem Gehirn, Körper, Umwelt, die diese Umwelt bevölkernden Mitmenschen und auch technische Gerätschaften von der Tontafel bis zum Handy eine zentrale Rolle spielen. „Die Kognitionswissenschaft beschäftigt sich nicht mit ewigen Wahrheiten, sondern fragt, was wir brauchen, um beispielsweise über solche nachdenken zu können, und wie wir diese Fähigkeit erwerben“, erklärt der Philosoph Achim Stephan.
Intelligenz
Intelligenz/-/intelligence
Sammelbegriff für die kognitive Leistungsfähigkeit des Menschen. Dem britischen Psychologen Charles Spearman zufolge sind kognitive Leistungen, die Menschen auf unterschiedlichen Gebieten erbringen, mit einem Generalfaktor (g-Faktor) der Intelligenz korreliert. Demnach lasse sich die Intelligenz durch einen einzigen Wert ausdrücken. Hierzu hat u.a. der US-Amerikaner Howard Gardner ein Gegenkonzept entwickelt, die „Theorie der multiplen Intelligenzen“. Dieser Theorie zufolge entfaltet sich die Intelligenz unabhängig voneinander auf folgenden acht Gebieten: sprachlich-linguistisch, logisch-mathematisch, musikalisch-rhythmisch, bildlich-räumlich, körperlich-kinästhetisch, naturalistisch, intrapersonal und interpersonal.
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Ein Spektrum kognitiver Fähigkeiten
Sichtbarstes Kennzeichen für diesen Wandel: Statt von Denken sprechen die Forscher heute von Kognition (vom griechischen Wort gignoskein – erkennen, wahrnehmen). Das Denken in Sätzen und Begriffen platzieren sie am obersten Ende eines ganzen Spektrums kognitiver Fähigkeiten. Wo dieses Spektrum beginnt, ist weniger klar. Die Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela gaben in den 1980er Jahren die Devise aus: Life is Cognition. Doch den meisten Kognitionsforschern ging es zu weit, Obst und Gemüse kognitive Fähigkeiten zuzuschreiben.
Für viele ist die Fähigkeit zu lernen eine Minimalbedingung für Kognition Wie Erlebnisse zu Erfahrungen werden – das Gedächtnis. Eine Reaktion, die starr an einen Reiz gekoppelt ist, ohne dass der Organismus sie modifizieren könnte, etwa ein Zusammenzucken bei einem lauten Knall, gehört demnach nicht zu den kognitiven Fähigkeiten. Kognition ist, was sich zwischen Reiz und Reaktion in einem Organismus abspielt. Und das ist einiges: Gedächtnis und Bewusstsein, Wahrnehmung und Aufmerksamkeit, Bewegungssteuerung, Sprache und Kommunikation, Emotion, Kreativität, Motivation, Empathie und vieles mehr. Das neue Handbuch für Kognitionswissenschaft befasst sich mit 25 verschiedenen kognitiven Fähigkeiten. „Denken als solches“ kommt dabei gar nicht mehr vor. „Was sollte Denken sein, wenn nicht Problemlösen, Schlussfolgern, Wahrnehmen und vieles andere?“, konstatiert Achim Stephan.
Mit der Einsicht, dass den Maschinen leicht fällt, womit Menschen sich herumquälen – Rechnen, Vokabellisten lernen – Maschinen aber nur schwer beizubringen ist, was Menschen nebenbei erledigen – Small Talk halten, Pizza backen – lernten die Kognitionsforscher die Rolle all der Fähigkeiten schätzen, die heute das Geschäft der Kognitionswissenschaften ausmachen:
Gedächtnis
Gedächtnis/-/memory
Gedächtnis ist ein Oberbegriff für alle Arten von Informationsspeicherung im Organismus. Dazu gehören neben dem reinen Behalten auch die Aufnahme der Information, deren Ordnung und der Abruf.
Wahrnehmung
Wahrnehmung/Perceptio/perception
Der Begriff beschreibt den komplexen Prozess der Informationsgewinnung und –verarbeitung von Reizen aus der Umwelt sowie von inneren Zuständen eines Lebewesens. Das Gehirn kombiniert die Informationen, die teils bewusst und teils unbewusst wahrgenommen werden, zu einem subjektiv sinnvollen Gesamteindruck. Wenn die Daten, die es von den Sinnesorganen erhält, hierfür nicht ausreichen, ergänzt es diese mit Erfahrungswerten. Dies kann zu Fehlinterpretationen führen und erklärt, warum wir optischen Täuschungen erliegen oder auf Zaubertricks hereinfallen.
Empathie
Empathie/-/empathy
Der Begriff „Empathie“ geht auf das altgriechische Wort für „Leidenschaft“ zurück. Heute versteht man unter Empathie das Vermögen, sich in andere hineinzuversetzen und deren Gefühle, Gedanken und Handlungsweisen nachzuvollziehen. Die physiologische Basis dafür sehen viele Neurowissenschaftler in den Spiegelneuronen: Nervenzellen, die beim Beobachten einer Handlung ebenso aktiv sind wie bei deren Ausführung.
Denken und gedacht werden
Eine Einsicht, die so alt sein dürfte wie das Denken selbst, hat allerdings bis heute Bestand: Obwohl wir das bewusste Nachdenken, Planen und Problemlösen als etwas erleben, das wir tun und für das wir uns konzentrieren und anstrengen müssen, haben wir es doch nicht recht im Griff. Geistesblitze und Intuitionen können wir trotz vieler Versuche bis heute nicht erzwingen. Umgekehrt ist die Plappermaschine in unserem Kopf auch nicht abzustellen. Pausenlos flutet unser Gehirn unsere Aufmerksamkeit mit Ideen, Gedankenschnipseln, Bildern, Melodien.
Jahrhundertealte Meditationspraktiken, die bei ausreichender Übung ein wenig Abstand von dieser mentalen Dauerberieselung schaffen, deuten darauf hin, dass sich die Menschheit auch mit diesem Problem schon länger befasst Warum Meditation?. Das Bewusstsein ist im großen Reich der Kognition eben nur eine mickrige Taschenlampe. Und bei allem Stolz, mit der der Mensch auf die vornehmste seiner Fähigkeiten blickt, muss er doch zugeben, dass das Denken ihm ebenso sehr passiert, wie er es veranstaltet.
Aufmerksamkeit
Aufmerksamkeit/-/attention
Aufmerksamkeit dient uns als Werkzeug, innere und äußere Reize bewusst wahrzunehmen. Dies gelingt uns, indem wir unsere mentalen Ressourcen auf eine begrenzte Anzahl von Bewusstseinsinhalten konzentrieren. Während manche Stimuli automatisch unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, können wir andere kontrolliert auswählen. Unbewusst verarbeitet das Gehirn immer auch Reize, die gerade nicht im Zentrum unserer Aufmerksamkeit stehen.
zum Weiterlesen:
- Achim Stephen, Sven Walter (Hg.): Handbuch Kognitionswissenschaft. Metzler Verlag, Stuttgart, Weimar 2013. (Film zum Buch)